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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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in Sicherheit, nicht ein Beweis dafür, dass das zutraf?
    Nun war die Detonation verklungen, die Teller und Gläser hatten sich wieder beruhigt. Und er schenkte sich nach. Und vergaß, was ihm seine Gastgeberin zuvor gesagt hatte. Von wegen bedächtiger trinken. Er brauchte auch etwas gegen die Trockenheit im Mund. Anschließend schlief er jedenfalls wie ein Stein.
    Molly hingegen lag noch lange wach. Sie hörte den Mann im Zimmer nebenan atmen. Er lag auf ihrem Lesesofa, einem gepolsterten Möbel mit je einer Armlehne links und rechts. Wenn sie darauf saß und las, lehnte sie sich, einen Polster im Kreuz, an die eine Lehne und stützte die Füße auf die andere.
    Um darauf zu liegen, war dieses Sofa eigentlich zu kurz. Erst recht für einen Mann von Mortimers Größe. Aber er hatte es irgendwie geschafft, sich zusammenzurollen. Wieder fiel ihr der Kater ein, ein großes, für seine Spezies sogar schweres Tier, aber erstaunlich biegsam.
    Für Tiere im Haus hatte ihre Mutter nicht viel übriggehabt. Wenn die Katzen aus der Umgebung vorbeikamen, wurden sie gefüttert, aber dann sollten sie gefälligst wieder hinaus ins Freie. Oder allenfalls auf den Dachboden, wo man sie manchmal poltern hörte. Im Haus hatten sie auf die Dauer nichts zu suchen.
    Der aber, Ginger, wollte manchmal nicht so recht wieder weg. Namentlich im Spätherbst oder im Winter. Dann fand man ihn manchmal im Schrank, in einem der Wäschefächer. Auf für seine Größe engstem Raum zusammengeringelt.
    Dieser Mortimer aber war kein Kater, sondern ein Mensch. Ein großes Mannsbild von schätzungsweise eins achtzig. Den Kater hatte die Mutter, wenn sie ihn im Schrank entdeckte, am Fell im Nacken gepackt und vor die Tür gesetzt. Da hatte er Molly jedes Mal leidgetan.
    Molly hörte nicht nur den Atem des Mannes, sondern auch die Nachtgeräusche von draußen. Das wogende Rauschen des Windes in den Wipfeln der Steineichen, den beharrlichen Ruf eines Käuzchens. Und das Heulen von Hunden auf irgendwelchen fernen Gehöften. Vielleicht waren es auch verwilderte Hunde, die sich ihres wölfischen Vorlebens erinnerten.
    Das waren Geräusche, die sie sonst auch gehört hatte, wenn sie in der Nacht aufgewacht war. Aber dann hatte sie sich meist umgedreht und weitergeschlafen. Selbst an die Kriegsgeräusche hatte sie sich gewöhnt. Sie nahm sie mit fatalistischer Gelassenheit zur Kenntnis, wie den Donner, wenn es gewitterte.
    Anfangs, nachdem sie die Bianchis in dieses Haus gesetzt hatten, als Gouvernante und Englischlehrerin ihrer Kinder, hatte sie auch der manchmal erschreckt. Zuweilen war es ihr vorgekommen, als entlade sich die Spannung zwischen Himmel und Erde direkt über dem Dach, nur wenige Meter über ihrem Bett. Aber das war lange her, mehr als zwei Jahrzehnte war das her, damals war sie ein junges Mädchen gewesen. Jetzt war sie dreiundvierzig und noch immer Miss Molly.
6
    Miss Mary Kinley, Gouvernante und Englischlehrerin außer Dienst. Die Kinder, zu deren manierlicher Erziehung und nützlichem Unterricht sie engagiert worden war, waren inzwischen erwachsen und verheiratet. Filiberta lebte in Pisa, Chiara, vermählt mit einem Mann, der zwar nicht ganz so adelig war wie sie, aber eine feine, kleine Privatbank besaß, im Tessin. Man hätte Molly eigentlich nicht mehr gebraucht, auch die Rolle als Strohfrau, die ihr die Bianchis damals, Anfang der Zwanzigerjahre, listig zugedacht hatten, um der Familie den Besitz am
giardino
zu erhalten (eine Rolle, die sie gespielt hatte, ohne es wirklich mitzubekommen), brauchte sie nicht mehr zu spielen – das Thema Enteignung war vorläufig vom Tisch.
    Doch sie hatte sich so an das Leben in diesem Haus, in diesem Ambiente gewöhnt, dass sie einfach nicht wegwollte. Nach all den Jahren nach England zurückzukehren, in dieses Wetter, das ihr nicht guttat, obwohl sie dort, unter dem meist grauen Himmel der Midlands, geboren war, schien ihr alles andere als verlockend. Als sie beim Begräbnis ihrer Mutter zum letzten Mal dort gewesen war, hatte sie sich sofort wieder einen Husten zugezogen, der ihr dann, auch nach ihrer raschen Rückkehr, noch lang zu schaffen gemacht hatte. Ihr Bruder war schon im Ersten Weltkrieg gefallen, mit den verbliebenen Verwandten, ein paar Tanten und Onkeln, mit denen sie nach dem Begräbnis ebenso wenig hatte anfangen können wie die mit ihr, pflegte sie keinen Kontakt mehr.
    Als Rückverbindung zu Britannien genügte ihr der Kontakt mit der englischen Literatur. Sie liebte Shakespeares Sonette

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