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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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Position nicht sehen, sondern bloß ahnen), der Fahrer fuhr los. Und Molly, die nun still stand, so still wie nur irgend möglich, hörte ihr Herz klopfen wie nie zuvor – der Herzschlag dröhnte ihr geradezu in den Ohren.
17
    Wie sie dann von Florenz zurück nach San Vito gekommen war, das hätte Molly gar nicht fortlaufend erzählen können. (Sie
versuchte
es vielleicht zu erzählen, in den Tagen und Nächten, die sie dann wieder mit Mortimer verbrachte, unter manchmal extremen Verhältnissen ...) Aber es war wie die Erinnerung an einen Traum, stellenweise wie die Erinnerung an einen Alptraum. Kurze, sozusagen unterbelichtete Sequenzen, dazwischen viele schwarze Kader.
    Zum Beispiel die Sequenz, in der sie, noch in Florenz, in einem Labyrinth von schmalen Gassen herumirrt. In den Ohren immer noch den dröhnenden Herzschlag. Vielleicht sind das allerdings auch die Glocken von Santa Croce – wenn diese Glocken damals nicht von den Deutschen requiriert und eingeschmolzen waren. Falls sie noch da waren, ist es jedenfalls gut möglich, dass sie eine Messe einläuteten – davon soll es viele gegeben haben in jenen Tagen, Messen für die Toten und für die noch Lebendigen, Angstgottesdienste, Bittgottesdienste, Dankgottesdienste dafür, dass man selbst noch verschont geblieben war.
    Molly aber sucht keine Zuflucht in der Kirche. Sie irrt durch die Gassen, sie findet sich nicht mehr zurecht. Es ist keineswegs so, dass sie sich nicht auskennt in dieser Stadt, die sie in den Friedensjahren, die jetzt allerdings unendlich weit zurückzuliegen scheinen, öfter besucht hat. Vor allem die Museen hat sie besucht, hier irgendwo, denkt sie, muss der
Bargello
sein, mit dem
David
von Donatello und dem
Bacchus
von Michelangelo, ja, der
Bargello
, ein Gebäude mit signifikantem Turm, an dem sie sich orientieren könnte, aber sie kann ihn nicht finden.
    Dann eine Szene, in der sie im Hotel, das sie dann doch noch gefunden haben muss, wieder auf dem Bett liegt. Vollständig bekleidet, obwohl jetzt schon Nacht sein dürfte. Und es ist, als ob sie sich selbst daliegen sieht, etwa aus der Position des Muranoglas-Lusters. Unten auf dem Bett liegt sie in einer Haltung, die an einen toten Vogel erinnert, halb auf Bauch und Brust, halb auf der Seite, die Arme etwas verdreht ausgebreitet, Gesicht in den Polster vergraben, aber oben auf dem Luster sitzt etwas anderes von ihr, etwas Leichtes, vielleicht ihre Seele, und schaut auf diesen armen, erschöpften Körper hinunter.
    Es wird viel geschossen in dieser Nacht, wie übrigens fast jede Nacht seit der Ausrufung der Republik von Salò. Die
ragazzi
, die man bewaffnet hat, um den Faschismus so lang wie möglich am Leben zu erhalten, vergnügen sich damit, in die Luft zu ballern und da und dort Handgranaten zu werfen. Die jungen Menschen wollen halt ihren Spaß haben. Aber auch wenn diese Horden ganz in der Nähe vorbeiziehen, hört sie Miss Molly nur wie aus weiter Ferne.
    Dann die Sequenz auf dem Bahnhof, das muss schon am nächsten Morgen sein. Sehr früh am Morgen, so wie es aussieht, die Halle ist leer, alle Schalter sind geschlossen. Aber vielleicht ist es gar nicht mehr ganz so früh am Morgen. Hier wird es möglicherweise den ganzen Tag so aussehen.
    Hier gibt es keine Fahrkarten, Signora, von hier aus können Sie heute nirgendwohin fahren. Sagt das jemand? Natürlich könnte sie sich das auch denken. Aber Miss Molly geht durch die Kassenhalle wie in Trance. Sie will zurück nach San Vito, sie will zurück in ihr Mauerhaus, es bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig.
    Miss Molly geht durch die Kassenhalle, in der Hand ihren kleinen Koffer. Die Fahrkartenschalter sind geschlossen, aber vielleicht kann sie ihr
biglietto
auch im Zug lösen. Wo wollen Sie hin, Signora? Von hier aus werden heute keine Züge abgefertigt. Stimmt schon, da draußen stehen zwei auf den Gleisen, aber das sind Sonderzüge.
    Sonderzüge aus Rom. Die fahren direkt nach Deutschland. Ziemlich überbelegte Sonderzüge. Männer, Frauen, Kinder zusammengepfercht auf engstem Raum. Verriegelte Züge, versiegelte Züge, es ist verboten, sich diesen Zügen zu nähern.
    Die Bahnsteige sind zerniert, Signora, Sie können da nicht hinaus. Nichts als SS-Leute, sehen Sie, wachen Sie auf! Eine Stimme. Vielleicht eine innere Stimme. Und im letzten Moment, bevor sie den Kerlen da draußen in die Hände läuft, dreht Molly um, oder nein, sie macht eine Wendung um neunzig Grad, nach links, und verschwindet, so rasch sie kann, ohne

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