Mortimer & Miss Molly
Siena, das dann interessanterweise nicht bombardiert wurde. Wahrscheinlich hatte diese Familie auch gute Beziehungen zu Gott.
In San Vito allerdings hatte das nichts genützt. Da stand der Palazzo Bianchi dann auch als Bombenruine. Aber das kam erst, vorläufig war er noch ganz intakt. Im Gegensatz zu einigen anderen Häusern, die auch schon damals, als Molly zurückkam, nur mehr Schutthalden waren.
Abgründe taten sich mitten auf der Straße auf. Und Durchblicke gab es, die man früher nicht gehabt hatte. Und dennoch: Im Vergleich mit später war alles noch halb so schlimm. Molly umging die Krater und kletterte über die Trümmer.
Und der Park lag noch unversehrt, ein verzauberter Bereich. Und das schmale Haus in der Mauer stand noch. Und Molly sperrte die Eingangstür auf und ging die Treppe hinauf. Und dann öffnete sie die Tür zum
soggiorno
und hielt den Atem an.
Und hörte etwas. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Und ging durchs
soggiorno
, in dem Mortimer geschlafen hatte, und durch die Küche, in der sie mit ihm bei Tisch gesessen war. Und dann öffnete sie die Tür, hinter der die Wendeltreppe zum Taubenturm führte. Und da stand er, Mortimer, nach wie vor in den Klamotten des toten Gärtners, aber mit der MP im Anschlag.
Und dann senkt Mortimer die Waffe und setzt sich auf die Stufen.
Nah:
sein Gesicht. Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. Und Molly setzt sich neben ihn, falls dafür auf der schmalen Treppe genug Platz ist. Es wäre schön, wenn dort genug Platz wäre, denn dann könnte sie, neben ihm sitzend, ihre Hand beruhigend auf seine legen.
Auf seine freie Hand, wahrscheinlich die linke. Denn die andere Hand hält ja noch immer die MP. Und so sitzen die zwei dann für eine Weile, schweigend. Während über ihnen im Turm die Tauben gurren.
Und dann Schnitt, sagte Marco. Und dann die Szene im Bett. Wie viel oder wie wenig reale Zeit zwischen diesen beiden Szenen vergeht, ist unerheblich. Im Film sollten sie unmittelbar aufeinanderfolgen. Ja, sagte Julia, und wir haben ja schon lang genug auf diese Szene gewartet.
Aber jetzt bitte trotzdem nichts überstürzen. Das ist eine Szene, die viel Fingerspitzengefühl braucht. Wie sie einander entkleiden und behutsam berühren. Sie finden einander mit freudigem Erstaunen.
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Ja, sagte Julia, ja, sagte Marco, ja, ja, sagten sie beide. Sie probierten diese Szene: Sie spielten sie nach, sie spielten sie einander vor. An dieser Szene konnten sie sich gar nicht sattspielen. Zweifellos war das der bisherige Höhepunkt ihres Fantasiespiels.
Es wäre ideal gewesen, hätte man die Zeit an dieser Stelle anhalten können. Aber das ging nicht. Weder für Mortimer und Molly noch für Julia und Marco. Das würde, bedauerte Marco, nicht einmal in seinem Film gehen. Auch wenn diese Szene in Zeitlupe abliefe, müsste sie einmal enden.
So könne doch die Geschichte nicht stehenbleiben. Das wäre, so leid es ihm tue, sehr unrealistisch. Wir können nicht einfach ausblenden, was draußen geschieht. Draußen ist nach wie vor Krieg. Wir sind im Juni 1944.
20
Nach den Bombenangriffen hat sich fast ganz San Vito in die Macchia geflüchtet. In entlegene Gehöfte oder verborgene Höhlen. Dort lebt man unter kargen, primitiven, manchmal schwer erträglichen Verhältnissen. Aber man hofft, dass man auf diese Weise überlebt.
Alles ist besser, als im Ort zu bleiben und zu warten, bis wieder Bomben fallen. Denn so viel ist klar, dass das lang noch nicht alles war. Die alliierten Panzer und Infanterietruppen sind ja erst im Anmarsch. Und wer weiß, wie viel die Bomber planieren, bevor die Bodentruppen endlich einmarschieren.
Und wer weiß, was bis dahin den Deutschen noch einfällt. Dieser in die Enge getriebenen Truppe. Die Stellung soll so lang wie nur möglich gehalten werden, das ist ein Befehl von ganz oben. Völlig idiotisch, denkt der Major, dem es inzwischen hier gar nicht mehr wohl ist – ohne die Bianchis und ihre Gastfreundschaft hat der Ort für ihn viel von seinem Reiz verloren.
Die Deutschen einerseits und Mortimer und Molly, dieses absurde Paar, anderseits. Außer ihnen ist kaum noch wer in San Vito. Manchmal kommt jemand kurz zurück, um etwas aus dem Haus zu holen, in dem er gewohnt hat, falls es, was er bei dieser Gelegenheit feststellen kann, noch steht. Aber vielleicht steht es gerade noch, wenn er es betritt, und bevor er die Sachen zusammengepackt hat, die er noch holen wollte, weil er geglaubt hat, sie noch zu brauchen, wird es getroffen, und
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