Mortimer & Miss Molly
Asche.
Von so etwas war San Vito bislang verschont worden.
Grazie a Dio
, sagte Ferruccio, gibt es bei uns keine Bahn. Auch einige Höfe in der Umgebung waren zerstört. Ferruccio schüttelte den Kopf und bekreuzigte sich.
In Florenz waren die Brücken, auf der sie über den Arno fuhren, mit Sprenglöchern versehen. Auch dafür hatte Ferruccio einen scharfen Blick. Sehen Sie nur, sagte er, noch sind die Minen nicht drin, aber da ist alles vorbereitet. Wenn die Deutschen die Stadt verlassen, lassen sie die Brücken in die Luft fliegen.
Vorerst waren allerdings noch genug Deutsche da. Mehr als genug. Die Straßen waren voll von ihnen. Zwei Mal wurde Ferruccio aufgehalten, doch der Passierschein, den ihm der Marchese mitgegeben hatte (ausgestellt vom deutschen Kommando in San Vito, Hakenkreuz-Stempel und Autogramm des Majors), hatte die erhoffte Wirkung. Miss Molly war darin mit einem italienischen Namen eingetragen, als irgendeine entfernte Verwandte der Bianchis – unter diesem Namen wurde sie auch im Hotel erwartet, in das sie Ferruccio brachte.
Damit hatte Ferruccio alles getan, was ihm vom Marchese und von der Marchesa aufgetragen worden war.
Dunque
, sagte er, viel Glück, Miss Molly! Und dann, als wäre ihm das gerade erst in diesem Augenblick eingefallen: Ihren Gast werde ich selbstverständlich weiterhin versorgen.
Das war Ferruccio. Was für ein großartiger Mensch! In all seiner Bescheidenheit. Und mit all seiner Feinfühligkeit. Im Lift konnte Molly die Tränen, die ihr kamen, noch einigermaßen zurückhalten. Doch dann im Zimmer, nachdem sie den Koffer abgestellt hatte, ließ sie sich, ohne den Raum weiter wahrzunehmen, aufs Bett fallen und heulte wie ein kleines Mädchen.
14
Das Hotel, das die Bianchis für sie ausgesucht hatten, war keines von den allerersten Häusern. Doch stand hinter dieser Wahl kein Klassendünkel. Und ökonomische Überlegungen gehörten auch in schwierigen Zeiten nicht zum Stil dieser Familie. Es war einfach so, dass die Wahrscheinlichkeit von Razzien in den renommierten Quartieren, in denen sie selber abstiegen, wenn sie in Florenz waren, in diesen bösen Tagen größer war als anderswo.
Dem Vernehmen nach waren dort, im
Ritz
, im
Esplanade
und wie diese eleganten Etablissements alle hießen, letzthin hohe Militärs verhaftet worden. Darunter sogar Generäle, die dem Marionettenregime von Salò nicht dienen und sich irgendwohin hatten absetzen wollen. Auch reiche Juden waren angeblich gefasst worden, die noch aus Rom davongekommen waren, wo die Deutschen nun systematisch, Planquadrat für Planquadrat, nach ihnen suchten. Das war unschön. In solche Zusammenhänge sollte Molly nicht geraten.
Sie würde ja voraussichtlich auch nicht lang in diesem Hotel bleiben. Vielleicht nicht einmal eine Nacht – wenn alles klappte, wie es die Bianchis geplant hatten, war dieses Zimmer hier nur eine Zwischenstation. Sie sollte doch möglichst bald von hier weg, Richtung Schweiz. Wann genau, wie genau, diese Details würde sie von der Contessa Rossi erfahren.
Von der Contessa Rossi, die, so viel hatte die Marchesa angedeutet, nützliche Beziehungen zu Organisationen hatte, die in schweren Zeiten wie diesen zu helfen versuchten. Also beispielsweise zum Roten Kreuz. Ihr kannst du dich getrost anvertrauen, hatte die Marchesa gesagt, sie wird einen Weg finden ... Und dann, wenn du einmal dort bist, über der Grenze, kannst du fürs Erste einmal aufatmen.
Doch vorläufig war sie noch hier in diesem Hotel. In diesem Zimmer, einem Raum mit Stuckdecke und hohen, mit schweren, schon etwas verschossenen Samtvorhängen drapierten Fenstern. Nüchtern betrachtet war es um einiges geräumiger als jedes Zimmer in ihrem Mauerhaus. Aber sie hatte den Eindruck, dass es ihr die Luft zum Atmen nahm.
Wie lange würde, wie lange musste sie das aushalten? Es war jetzt immer noch Vormittag, die Fahrt von San Vito hierher war rascher gegangen, als der Marchese gedacht hatte. Er hatte einen Zeitplan erstellt und dabei noch allfällige Zwischenfälle einberechnet. Zwischenfälle, die nun, abgesehen von den zwei glimpflich verlaufenen Kontrollen, nicht eingetreten waren.
Außerdem war es natürlich ratsam gewesen, möglichst früh am Morgen zu fahren. Doch nun war die Zeit bis zum Abend, an dem Molly die Contessa treffen sollte, endlos lang. Was sollte, was konnte sie bis dahin mit sich anfangen? Das Florenz jener Tage war ja nicht die Stadt, in der sie, wie sonst, unbeschwert flanieren, das eine oder andere
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