Mortimer & Miss Molly
dann braucht er nichts mehr.
Kommt auch Ferruccio zurück? Riskiert er sein Leben, um Mortimer mit dem Nötigsten zu versorgen? Hat er kapiert, dass Miss Molly wieder da ist? Wir wissen es nicht, sagte Marco. Eine Seele von einem Menschen!, sagte Julia. Ja, sagte Marco, aber vielleicht ist diese Seele inzwischen schon im Himmel.
Es wird den beiden, Mortimer und Molly, also gar nichts anderes übrig bleiben, als das Mauerhaus zu verlassen. Und zwar, wenn du mich fragst, besser früher als später.
Schade, sagte Julia. Ihr hätte die Geschichte besser gefallen, wenn die beiden geblieben wären. Wenn die Magie, die den Park und das Mauerhaus schützte, weitergewirkt hätte, auch in Abwesenheit der Bianchis.
Magari
, sagte Marco. Das war eine Phrase, die er gern gebrauchte.
Magari fosse vero
. Wenn es doch wahr wäre! Das Überleben unserer unversehens Liebenden im Schneckenhaus. Dramaturgisch wäre das allerdings eher unergiebig.
21
Eines Tages entdeckten sie dann die Terrasse. Merkwürdig, dass sie die nicht schon früher entdeckt hatten. Neben dem Etagenbad war eine Metalltür, hinter der, so viel hatten sie bisher mitbekommen, Fantini manchmal das Bettzeug bügelte. Meist sperrte er die Tür zu, wenn er diese Arbeit erledigt hatte, und zog den Schlüssel ab, an diesem Tag aber hatte er ihn anscheinend vergessen und stecken gelassen.
Sie betraten also die Bügelkammer. Und siehe da, dahinter ging es noch weiter. Das hätten sie sich eigentlich denken können. Da führten Stufen hinauf zum Hängeboden.
Hier roch es einerseits nach der frisch gewaschenen Wäsche, die unter der Dachschräge zum Trocknen hing. Und anderseits roch es nach Staub, der in den schräg einfallenden Lichtstrahlen tanzte. Aber das Licht fiel nicht nur durch die kleinen Klappfenster. Es gab da noch eine Tür, eigentlich war es ein aus rohen Brettern gezimmerter Verschlag, der, mit einem Strick an einen Balken gebunden, offen stand.
Man musste sich bücken, damit man sich den Kopf nicht anschlug. Aber dann stand man unter freiem Himmel. Mitten in der Dachlandschaft von San Vito. Die ziegelroten Dächer, die Schornsteine, die Fernsehantennen – eine Landschaft von ganz eigentümlicher Ästhetik.
Die Terrasse an sich war hässlich, nichts weiter als ein betoniertes Geviert mit rostigem Metallgeländer. Doch lag sie wunderschön eingebettet in dieses Ambiente. Und was Marco und Julia ganz besonders frappierte: Obwohl sie da nur einen Halbstock höher waren als in ihrem Zimmer, sahen sie aus dieser Position erheblich mehr vom Garten.
Nicht nur die Steineichen im Hintergrund, sondern auch einen Teil der Hecken und Beete davor. Inklusive Mortimers Landeplatz. Vor allem aber: Man sah das Mauerhaus. Aus einer Perspektive, aus der sie es bisher noch nicht gesehen hatten, und aus einer überraschenden Nähe.
Sie hatten es bisher ja nur aus dem Garten gesehen. Also von unten und im Wesentlichen frontal. Nun sahen sie es von hier oben, auf der Höhe der Stadtmauer, die vom Albergo nur durch eine enge Gasse getrennt war. Und diese Mauer führte direkt an seine Schmalseite.
Da sah man die Pforte, die direkt auf die Mauerkrone führte. Zwar war dann, etwa zehn Meter danach, ein Gitter, aber das ließ sich gegebenenfalls überklettern. Siehst du, so einfach ist das, sagte Marco. Wenn Mortimer und Molly aus dem Mauerhaus wegmüssen, ist das der Fluchtweg.
Er holte die Kamera aus dem Zimmer und fotografierte. Mit dem Teleobjektiv konnte man das alles noch viel näher heranholen. Das Mauerhaus, seine geschlossenen Fenster und Türen, den Laufweg auf der Mauerkrone. Sogar die Tauben auf dem Dach und auf der Balustrade.
Marco fotografierte auch in die andere Richtung. Über die Dächer, bis zum Turm der Collegiata. Auch auf dem Turmhelm saßen Tauben und Dohlen. Wiederholt lauerte er auf den Augenblick, in dem die Glocken läuteten und die Vögel aufflogen.
Und natürlich vergaß er auch da oben nicht, Julia zu fotografieren. Julia mit einem Sonnenhut, den sie festhielt, damit ihn der Wind nicht davonblies ... Julia mit einer kleinen Katze, die über die Dächer daherkam und sich locken ließ ... Und Julia in die Ferne blickend, über die Dächer hinaus in das von der sommerlichen Hitze vergilbte Hügelland, an dessen äußerstem Rand, fast schwebend in der flirrenden Luft, ein paar blassblaue Berge zu ahnen waren.
22
Eines Samstagmorgens, als Julia, noch ein bisschen schläfrig, den ersten Blick aus dem Fenster tat, wehten am Eingang zum
giardino
rote
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