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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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dadurch erst recht aufzufallen, durch einen der Seitenausgänge.
    Dann eine Szene am Fluss, am Ufer des Arno. Nicht dort, wo die vielen Brücken sind, sondern weiter draußen. Flussaufwärts oder flussabwärts, an einer Stelle, an der noch das braune Gras vom vergangenen Jahr steht. Aber dazwischen die gelben Blumen von heuer.
    Da sitzt Molly auf ihrem Koffer, kaut an einem Stück Brot. Sie hat sich, das weiß sie noch, in einer langen Schlange vor einer Bäckerei angestellt, einer der wenigen, die noch Mehl zum Backen haben. Und nun teilt sie das Brot mit den Möwen, die hier im Fluss schwimmen und um sie herumflattern. Denn bei all dem Hunger, den sie vorerst gehabt hat, bringt sie jetzt nur wenige Bissen hinunter.
    Und dann sind die Möwen auf einmal weg, wie weggeweht. Und ein paar Sekunden darauf gibt es wieder Fliegeralarm. Und Miss Molly hört und sieht die Flieger, eine Staffel von gut einem Dutzend Bomben tragender Silbervögel. Und sie duckt sich unter einen Busch und hält sich die Ohren zu und betet.
    Schließlich die Szene oder die Szenenfolge im Bus. Tatsächlich, es gibt einen Bus, in dem Miss Molly vorerst bis Chiusi gelangt – oder ist es Montepulciano? Gewiss fährt er nicht von der üblichen Busstation ab und bestimmt nicht zur fahrplanmäßigen Zeit. Aber er fährt, dieser Bus, und das ist die Hauptsache.
    Er fährt die Nacht hindurch, und das hat seine Gründe. Nachts muss man das Maschinengewehrfeuer der alliierten Tiefflieger weniger fürchten. Die hätten zwar keinen Grund, einen Bus wie diesen, in dem garantiert keine deutschen Soldaten sitzen, zu beschießen. Aber woher sollen sie das wissen, die Befreier – erfahrungsgemäß schießen die auf alles, was sich bewegt.
    Die werden uns noch alle umbringen, sagt der Bauer, der neben Miss Molly sitzt, bevor sie uns befreien. Miss Molly sieht ihn kaum, im Bus ist es dunkel, aber er riecht wie ein sehr alter Mann.
Ihn
haben die Faschisten nicht mehr in den Krieg schicken können, aber seine Söhne. Der eine ist in Afrika gefallen, der zweite ist in Russland erfroren, den dritten, der geglaubt hat, davongekommen zu sein, haben die Deutschen in irgendeines von ihren Lagern deportiert.
    Und jetzt das!, sagt er. Seit fast einem Jahr sind die Alliierten nun da unten im Süden. Und rücken vor, heißt es, rücken beharrlich vor, bald werden sie da sein. Wie wir uns freuen, sagt der Bauer, besonders über die schönen Bombengrüße, die sie uns schicken. Ganz abgesehen davon, dass wir inzwischen die Deutschen am Hals haben.
    Der Bus darf auch an keinem deutschen Kontrollpunkt vorbeikommen. Also nimmt der Fahrer, der sich auskennt, einige Umwege. Miss Molly, die zwar am Fenster sitzt, aber fast nichts sieht, denn draußen ist Nacht, eine Nacht ohne Straßenbeleuchtung natürlich, und überdies sind die Fensterscheiben blau eingefärbt, Molly könnte nicht sagen, welche. Aber sie hat den Eindruck, dass dieser Fahrer, der sein Leben riskiert (und gewiss riskiert er auch das seiner Fahrgäste, doch das wissen sie – wer in einem Bus wie diesem mitfahren will, tut das auf eigene Gefahr), manchmal recht abrupt die Fahrtrichtung ändert.
    Sie muss Acht geben, dass ihr nicht übel wird. Dass sie sich nicht übergeben muss, liegt wahrscheinlich nur daran, dass sie so wenig im Magen hat. Einmal hält der Bus, damit die Fahrgäste allfällige Notdürfte verrichten und sich die Füße vertreten können. Die Nachtluft tut gut. Aus der Ferne hört man MG-Feuer. Über den dunklen Hügeln wölbt sich ein kalter Sternenhimmel.
    Von Chiusi nach San Vito brauchte Miss Molly dann noch zwei oder drei Tage. Ein Stück fuhr sie mit einem Pferdefuhrwerk, ein Stück mit einem Ochsenkarren, weite Strecken ging sie zu Fuß. Auf Bauernhöfen bekam sie Wasser und Brot, manchmal auch Polenta und Schafsmilch. Irgendwo muss es noch einen Schuster gegeben haben, der ihre Schuhe neu besohlte.
18
    In San Vito kam sie dann einen Tag nach dem ersten Bombardement an. Da lag das
paese
verlassen, die meisten Bewohner waren in die Umgebung geflüchtet. Möglichst weit weg von der Straße, über der die alliierten Flieger in den nächsten Tagen und Wochen noch tonnenweise Bomben abwerfen würden. Unglücklicherweise führte diese Via Cassia, auf der die Alliierten schließlich anrücken und die Deutschen endlich abziehen sollten, mitten durch den Ort.
    Alles verlassen also. Auch die Bianchis waren natürlich weg. Hatten sich nach Siena zurückgezogen, wo sie auch einige Palazzi besaßen.

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