Mortimer & Miss Molly
es auf. Allerdings sprach sie ihm jetzt doch noch auf den Anrufbeantworter.
Sono sempre Julia
, sagte sie. Ich habe den ganzen Abend (
tutta la serata
) versucht, dich zu erreichen. Jetzt bin ich müde (
molto stanca
). Gute Nacht.
5
Gegen drei Uhr früh wachte sie auf. Sie hatte von Mortimer und Molly geträumt. Wie sie geduckt auf der Mauerkrone liefen. Und wie sie dann, an einer Stelle, an der eine Reihe von weit hinaufwuchernden Sträuchern Deckung bot, über eine Eisenleiter hinunterkletterten.
Aber dann war ihr, als kletterten Marco und sie diese Leiter hinunter. Und sie spürte die raue Kälte der Eisenstäbe an den Händen. Und ihre Füße tasteten sich von Sprosse zu Sprosse. Und sie fragte sich, wann diese verdammte Leiter endlich zu Ende war.
Sie erwachte, weil ihr im Schlaf oder schon nur mehr im Halbschlaf einfiel, dass sie diese Szene notieren sollte. Sie setzte sich an den Schreibtisch und begann zu schreiben, aber ihre Finger waren noch klamm vom Klettern.
Außen. Nacht. Mortimer und Molly haben wieder festen Boden unter den Füßen
. Allerdings erinnerte sie sich jetzt, dass sie im Traum auch einen deutschen Soldaten gesehen hatte.
Anscheinend war der etwas weiter drüben auf der Mauerkrone patrouilliert. Also Gegenschnitt: Der Soldat unter dem Stahlhelm. Vielleicht ein sehr junger Mensch. Mit einem runden, rosigen Gesicht. Aber natürlich sieht man das nicht im Dunkeln.
Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass Marco inzwischen womöglich zurückgerufen hatte. Vielleicht war er inzwischen nach Hause gekommen, hatte ihre Nachricht gehört und es doch noch versucht. Zuvor, in einer Stimmung zwischen Erschöpfung und Unmut, hatte sie das Telefon leise gestellt. Rasch stellte sie es wieder laut und schaltete den Anrufbeantworter ein, aber da war nichts als rauschende Stille.
6
Was sie nicht wusste und noch nicht wissen konnte: Das Telefon, mit dem das ihre am Vortag so oft in Kontakt getreten war, hatte in Marcos leerer Wohnung geklingelt. Auch ihre Stimme hatte ins Leere gesprochen. Marco war schon seit Tagen nicht da gewesen.
Das viele Pendeln war ihm zu viel geworden. Er hatte sich ein Zimmer in Alessandria gemietet. Die Garçonnière in Turin wollte er deswegen zwar nicht aufgeben. Aber er würde bis auf weiteres nur eher selten dort vorbeikommen.
Natürlich war es nicht leicht gewesen, das seiner Mutter beizubringen. Nun wirst du mich noch mehr allein lassen, hatte sie gesagt, als bisher! Aber Mamma, hatte er gesagt, was soll ich denn machen? Wie soll ich es dir denn recht machen, hätte er sagen sollen.
Einerseits willst du, dass ich Arzt werde, und ich respektiere deinen Wunsch. Anderseits willst du nicht, dass ich mich von deiner Kittelfalte wegrühre. Das geht nicht. Hast du schon einmal etwas von
Doublebind
gehört? Wenn ich schon ein Turnusjahr in diesem Krankenhaus absolvieren muss, dann lass es mich so gestalten, dass ich es schaffe, ohne dabei selbst krank zu werden.
Darauf kam er immerhin zu sprechen. Über Krankheiten ließ sich mit der Mamma ganz gut reden. Tatsächlich, sagte er, fühle er sich nach den ersten paar Wochen, in denen er so absurd früh aufgestanden sei und sich fast nur in stickigen Zugsabteilen und in Krankenhauszimmern und -korridoren aufgehalten habe, schon selbst ganz marode. Kopfschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Kreislaufbeschwerden. So etwas dürfe man nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Sie seufzte. Dass er krank wurde, konnte sie als gute Mutter nicht wollen. Allerdings gehörte es sich eigentlich nicht, dass ihr Herr Sohn so anfällig war. Wenn hier jemand krank sein durfte, war sie es. Ich bin eine alte Frau, sagte sie. Aber Mamma, sagte er, du bist nicht älter als Liz Taylor.
Ach was, sagte sie. Woher weißt du überhaupt, wie alt ich bin? (Als ihr Mann, Marcos Vater, noch gelebt hatte, und sie noch gern ausgegangen war, ins Kino, ins Theater, sogar ab und zu auf einen Ball, hatte sie sich immer bemüht, ein paar Jährchen zu unterschlagen. Wenn sie sich damals schön hergerichtet hatte, Frisur, Lippenstift, Rouge und so weiter, was halt in jenen Jahren üblich war, hatte sie wirklich um einiges jünger gewirkt.) Dein Geburtsdatum steht in meinen Dokumenten, sagte Marco.
Ach ja?, sagte sie. Eigentlich war das eine Frechheit. Und was Liz Taylor betraf, fühlte sie sich durch den Vergleich mit ihr keineswegs geschmeichelt. Unlängst hab ich sie im Fernsehen gesehen, sagte sie, irgendein überflüssiges Interview. Sie hat schlimme Ringe unter den
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