Mortimer & Miss Molly
Die Brüste, die Marco mit Hilfe Jacques Préverts so hübsch evoziert hatte. Aber nachdem sie ihr T-Shirt über den Kopf gestreift hatte, war der Halsausschnitt ein bisschen blutig.
Sie tupfte die Lippen mit einem Taschentuch ab. Dann suchte sie die Tube Wund- und Heilsalbe, die sie in irgendeiner Lade haben musste. Dann warf sie das T-Shirt in die Waschmaschine. Und dann zog sie ein neues an und wählte Marcos Telefonnummer.
Die Chance, dass sie ihn jetzt erreichen würde, war zwar gering. Es war ja, besann sie sich, mitten am Vormittag! Da hatte er höchstwahrscheinlich Dienst im Spital. Es sei denn, überlegte sie, er hätte einen Nachtdienst hinter sich.
Aber dann schlief er womöglich. Sie jedenfalls hätte nach einem Nachtdienst geschlafen. Trotzdem ließ sie es klingeln. Nur drei Mal, dachte sie. Wenn er fest schliefe, würde ihn das nicht wecken. Und wenn er wach war, hob er vielleicht rasch genug ab.
Dann legte sie auf. Aber dann versuchte sie es noch einmal. Da hörte sie Marcos Stimme. Sie bekam heftiges Herzklopfen. Marco!, sagte sie.
Sono io, Julia!
Aber die Stimme reagierte nicht, sondern redete weiter.
Marcos Stimme auf dem Anrufbeantworter. Julia verstand nicht alles, was er sagte. So viel verstand sie allerdings, dass sie eine Nachricht nach dem Signalton hinterlassen konnte. Aber dann kam der Signalton und ihr fiel so rasch nichts ein.
Im Laufe des Nachmittags versuchte sie es zwei weitere Male. Falls er geschlafen hatte, war er ja inzwischen vielleicht aufgewacht. Aber natürlich konnte es sein, dass er dann weggegangen war. Oder er hatte eben doch Tagdienst in Alessandria und würde erst am Abend zurückkommen.
Okay. Sie würde ihm inzwischen einen Brief schreiben.
Caro Marco
, schrieb sie. Aber es war schwer, die richtigen Worte zu finden. Worte, die sagten, was sie ihm sagen wollte. Und die nicht verrieten, was sie ihm nicht sagen wollte.
Lieber Marco. Heute Morgen habe ich Deinen Brief erhalten. Wenn Du wüsstest,
wie
... Wenn Du wüsstest,
was
... Ach, lieber Marco, wenn Du wüsstest ... Zuerst versuchte sie, auf Italienisch zu schreiben, dann entschied sie sich für das doch etwas besser beherrschte Französisch ... Aber selbst, als sie sich entschlossen hatte, den Brief erst einmal auf Deutsch zu entwerfen und ihn danach, mit Hilfe des Wörterbuchs, zu übersetzen, kam sie nicht viel weiter.
Die Stunden vergingen ihr langsam an diesem Tag. Aber endlich war der Abend gekommen. Die Frage war allerdings, wann Marco, wenn er Tagdienst gehabt hatte, aus Alessandria zurückkam. Wann konnte er das Spital verlassen, und wie weit war Alessandria überhaupt von Turin entfernt?
Sie suchte ihren alten Schulatlas und fand eine Karte von Oberitalien. Maßstab 1:2.500.000, da ließ sich die Distanz nur recht ungefähr schätzen. Julia legte ein Lineal an und besann sich einfacher Mathematikkenntnisse. Wenn sie richtig gerechnet hatte, betrug die Entfernung ungefähr achtzig Kilometer.
Sie wählte die Nummer der Zugauskunft und erkundigte sich nach abendlichen Pendlerzügen. Es gab einen um siebzehn Uhr fünf und einen um neunzehn Uhr fünf. Der eine kam kurz nach halb sieben in Turin an, der andere kurz nach halb neun. Dann stellte sich nur noch die Frage, wie lang Marco vom Bahnhof zu seiner Wohnung brauchte.
Sie versuchte ihr Glück zum ersten Mal um halb acht. Und dann in Abständen von je einer Viertelstunde. Die ersten zwei oder drei Mal glaubte sie im ersten Moment noch immer, Marco live in der Leitung zu haben. Aber bald kannte sie die Worte, die er irgendwann auf Band gesprochen hatte, schon auswendig.
War er mit Freunden Abendessen? Er war ja ein geselliger Mensch ... Oder im Fußballstadion? Vielleicht spielte Juventus ... War er im Kino? Womöglich gab es einen neuen Film von Monicelli ... Oder war er wieder einmal bei seiner lieben Mamma?
Im Lauf des Abends malte sie sich diese Möglichkeiten noch etwas detaillierter aus. Vielleicht waren ja bei diesem Abendessen auch einige Freundinnen dabei. Oder auch nur eine. Und gar keine männlichen Freunde. Im Stadion bestand diese Gefahr wahrscheinlich weniger, aber auch im Kino musste er nicht allein sein.
Je später der Abend wurde, desto problematischer wurden ihre Visionen. Marco in einer Peepshow? Auch das war denkbar. Marco in einem Bordell? Das hoffentlich nicht. Er kannte sich allerdings mit so etwas aus – jedenfalls hatte er ihr erzählt, dass ein Puff auf Italienisch
casa di tolleranza
hieß
.
Um drei viertel zwölf gab sie
Weitere Kostenlose Bücher