Mortimer & Miss Molly
Zug inzwischen seltener benutzt. Du hast also ein Zimmer in Alessandria, das klingt doch gut. Vernünftig klingt das, ja klar, und viel weniger anstrengend. Ich frage mich nur, warum Du mir das nicht geschrieben hast?
In Turin, hat Deine Mutter gesagt, ist mein Sohn bis auf weiteres nur selten erreichbar. Ich schicke diesen Brief trotzdem an Deine Turiner Adresse, es ist die einzige, die ich habe. Ich hoffe, Du kommst im Laufe der nächsten Monate dort vorbei. Sollte das sehr spät im Jahr sein, so wünsche ich Dir gleich
buon natale
und
un felice anno nuovo
.
9
Drei oder vier Tage später rief Marco an. Er sei jetzt in Turin, sagte er, und habe ihren Brief gelesen. Anscheinend funktioniere der Postweg von Österreich nach Italien besser als umgekehrt. Vielleicht liege das daran, dass es bergab (also von Norden nach Süden) schneller gehe.
Aber Scherz beiseite. Es tue ihm leid, dass er bei ihr offenbar gewisse Irritationen ausgelöst habe. Als er seinen letzten Brief geschrieben habe, sei die Sache mit dem Zimmer in Alessandria noch nicht fix gewesen. Julia habe bei seiner Mutter übrigens auch gewisse Irritationen ausgelöst. Aber um weitere Missverständnisse zu vermeiden:
Ti voglio bene
.
Das war natürlich entwaffnend.
Ti voglio bene
. Ich mag dich. Ich hab dich gern. Das klang viel herzlicher und ehrlicher als:
Ti amo
. Zumindest für Julia.
Ti amo
, das klang für sie nach Kitsch, nach Schlager.
Ti voglio bene
hingegen klang authentisch.
Jedenfalls wenn es Marcos Stimme sagte. Wie gut es war, Marcos Stimme wieder zu hören! Ja, sagte Julia auf Deutsch, ich mag dich auch.
Come
, sagte er, wie bitte?
Ti voglio bene anch
’
io
.
Sie erzählte ihm, dass sie von Molly und Mortimer geträumt habe. Sie habe den Traum aufgeschrieben und weitergesponnen.
Figurati!
, sagte er, und das war eine Wendung, die sie an ihm liebte. Was ihn betreffe, so sei er mit dem Drehbuch leider kaum mehr vorangekommen.
Sie überlegten, ob sie einander nicht sehen könnten. Und sei es nur kurz, um sich einander zu vergewissern. Irgendwo in der Mitte, der Gerechtigkeit halber.
Innsbruck, sagte Julia.
Verona, sagte Marco. Das sei romantischer.
Na schön, Verona. Bis dorthin war der Weg für Julia zwar weiter. Doch es stimmte schon, dass es ein anderes Flair hatte.
Also, Verona. Aber möglichst bald.
Ja, sagte Marco. Was hältst du von kommendem Donnerstag?
Von Mittwochabend bis Donnerstag sechs Uhr früh hatte Marco Nachtdienst. Aber danach lag ein freier Tag vor ihm. Eigentlich hatte er da vorgehabt, nach Turin zu fahren und mit seiner Mutter eine kleine Jause bei
Medico
einzunehmen, ihrer Lieblingspasticceria gleich hinter der Kirche Gran Madre. Tatsächlich hatte er ihr das fast schon versprochen, aber er würde eine Ausrede finden.
Etwas von einem Schichtwechsel im Spital, das klang objektiv. Ja, leider, Mamma, so ist das, da kann man nichts machen. Da müssen wir unser Rendezvous halt ein wenig verschieben. Eine Woche später wird es dann umso schöner.
Diesen Donnerstag aber würde er gleich nach dem Nachtdienst den Zug nehmen, der nach Mailand fuhr und nicht nach Turin. Und in Mailand würde er in den
Direttissimo
nach Venedig umsteigen. Mit dem würde er noch am Vormittag in Verona ankommen. Und dort könnte er Julia in die Arme schließen.
Ja, sagte Julia. Diese Idee gefiel ihr. Zwar wäre es ihr lieber gewesen, wenn Marco seiner Mutter gegenüber keine Ausrede gebraucht, sondern klipp und klar gesagt hätte, dass er seine Freundin treffen wollte. Ja, genau die:
quella bella, quella cara, quella unica
, mit der er den größten Teil dieses Sommers in San Vito verbracht hatte. Aber wahrscheinlich war es besser, ihn nicht zu überfordern.
Also gut, also fein, sagte sie, treffen wir einander Donnerstagvormittag in Verona. Zwar hatten die Lehrveranstaltungen an der Uni schon wieder begonnen, und just da, Donnerstag, 10 Uhr sine tempore, hätte sie bei der Erstbesprechung für ein Dissertantenseminar sein sollen. Außerdem fing Donnerstagabend der Sprachkurs im italienischen Kulturinstitut an, Italienisch für Fortgeschrittene, für den sie sich in kühner Einschätzung ihrer im Sommer erworbenen Kenntnisse angemeldet hatte. Doch Marco zu treffen war ihr ganz einfach wichtiger.
10
Für sie wäre es allerdings zu spät gewesen, Donnerstagfrüh zu fahren. Sie musste schon Mittwochabend in den Zug steigen. Abfahrt Wien Süd um 19 Uhr 29. Ankunft Verona am folgenden Morgen um 7 Uhr 15.
Im Schlafwagen zu reisen erlaubte
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