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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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nicht noch etwas anderes? Und enthielt die etwas fragwürdige Befriedigung, die sie sich damit gegönnt hatte, nicht auch die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Rache? Doch. Ja, zugegeben. Aber das hatte Marco nun davon.
3
    Ein paar Mal hätte er sie beinah angerufen. Er konnte sie doch fragen, ob das nette Foto bei ihr angekommen sei. Das Foto mit seinen lieben Zeilen auf der Rückseite. Waren ihr die etwa zu sentimental erschienen?
    Hör zu, hätte er sagen können, was ich da geschrieben habe, war spontan und von Herzen. Es hat sich direkt vom Herz auf die Hand übertragen ... So ungefähr hätte er ein Telefongespräch mit ihr beginnen können. Aber kaum hatte er die Vorwahlnummer für Österreich gewählt, war er auch schon im Zweifel, ob das gut ankommen würde.
    Es war nicht ganz leicht, die richtigen Worte zu finden. Er erinnerte sich daran, dass sich Julia manchmal darüber gewundert hatte, wie ungeniert Italiener das Wort
Herz
verwenden. Darüber gewundert hatte sie sich und gelacht. So als könne das jemand, der mit der deutschen Sprache aufgewachsen sei, nicht ganz ernst nehmen.
    Also hatte er den Hörer, den er schon in der Hand und am Ohr gehabt hatte, wieder aufgelegt. Vielleicht war es doch besser, sich nicht übertrieben zu exponieren. Vielleicht war es klüger abzuwarten, bis auch sie ein paar Zeilen schrieb. Eigentlich war es ja jetzt an ihr zu reagieren.
    Dann aber schrieb er einen Brief an sie.
Cara Julia
, schrieb er,
mia carissima amore Viennese!
Ich denke an Dich. Ich denke viel an Dich. Ich denke an Dich und unsere schönen Tage (und Nächte) in San Vito.
    Das ist jetzt schon wieder beinahe einen Monat her. Aber es ist nicht vergangen, hoffe ich. Für mich ist es jedenfalls keineswegs vergangen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Dein Nachbild, und meine Hände erinnern sich zärtlich an die süße Wölbung Deiner Brüste.
    Dieser letzte Satz war von einem Gedicht des französischen Poeten Jacques Prévert inspiriert, dessen Gedichte und Chansons Marco liebte. Auf Französisch klangen sie gar nicht pathetisch. Hoffentlich würde sie Julia richtig verstehen. Das Gedicht hieß übriges
Chanson du Geôlier
, Lied des Kerkermeisters, aber das ließ er lieber unerwähnt.
    Wie geht es Dir, schrieb er, was treibst Du, schreib doch bitte! Für mich hat das erste Jahr im Spital nun begonnen. Wahrscheinlich ist es doch besser, wenn ich das hinter mich bringe. Meine Film-Ambitionen muss ich ja deshalb nicht aufgeben.
    Er habe sogar ein wenig am Drehbuch weitergearbeitet. Habe sich vorzustellen versucht, wie Molly und Mortimer aus dem Mauerhaus herauskämen. Lang genug haben sie gebraucht, um sich dazu zu entschließen, aber jetzt ist es endlich so weit. Sie öffnen leise, leise die Pforte, die hinaus auf die Mauerkrone führt.
    Gewiss sei es nicht einfach, unter den gegenwärtigen Bedingungen dranzubleiben. Er versuche es im Zug, mit dem er morgens und abends von Turin nach Alessandria und wieder zurück fahre. Täglich, außer an den Tagen, an denen er Nachtdienst habe. Da fahre er dann erst am folgenden Morgen zurück. Aber da sei er meist zu müde zum Schreiben.
    Natürlich ist Nacht, wenn die beiden ins Freie treten. Sie müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sterne, kein Mond (oder nur eine schmale Sichel). Auf der Mauerkrone laufen sie tief geduckt, aus der Ferne hört man Gewehrschüsse, dann MG-Feuer.
    Das Spital in Alessandria sei schäbig, schrieb Marco, es ähnle einer Kaserne. Er solle da alle Abteilungen kennenlernen, aber vorläufig habe man ihn in die Ambulanz geschickt. Seine Tätigkeit dort sei eher die eines Krankenhelfers als die eines Arztes. Er sei dauernd im Einsatz, und in den kleinen Pausen, die sich ergeben, komme er bestenfalls dazu, in den Hof hinauszugehen und eine Zigarette zu rauchen.
    Im Dienst zwischendurch zu schreiben sei jedenfalls unmöglich. Da schaffe er es ja nicht einmal, zwei zusammenhängende Gedanken zu denken. Julia & Marco – diese Assoziation schaffe er allerdings. Marco & Julia. Sei umarmt, meine Schöne!
4
    Diesen Brief erhielt Julia am Morgen nach ihrem Test mit Hans. Das zwei Wochen früher abgeschickte Kuvert mit dem Selbstauslöserfoto blieb nach wie vor aus, verschollen, es sollte nie ankommen. Aber der Brief! Dieser Brief kam an, und wie! Während sie ihn las, biss sich Julia auf die Lippen.
    Wie sehr sie sich gebissen hatte, bemerkte sie erst vor dem Spiegel. Vor den Spiegel war sie getreten, um ihre Brüste in Augenschein zu nehmen.

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