Mortimer & Miss Molly
ihr Budget nicht. Und die Vorstellung, die Nacht mit drei oder gar fünf fremden Personen im Liegewagen zu verbringen, bereitete ihr Unbehagen. Immerhin fand sie ein halbwegs leeres Abteil, in dem sie die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz legen konnte. Aber sie schlief nicht viel. Den größeren Teil der Nacht schrieb sie.
Draußen war es bald dunkel, das war gut. Da wurde sie nicht abgelenkt durch Details der Landschaft. Sie sah nur die Lichter, an denen der Zug vorbeiflitzte. Straßenlaternen, Autoscheinwerfer, beleuchtete Fenster irgendwo in der Gegend, ab und zu ein kleiner Bahnhof, durch den der Zug so schnell fuhr, dass man den Namen des Ortes nicht lesen konnte.
Sie schrieb. Sie versuchte sich wieder in die Geschichte von Mortimer und Molly einzufädeln. Wie war das gewesen? Sie waren geduckt auf der Mauerkrone gelaufen und dann über eine Eisenleiter hinuntergeklettert. Und dann hatten sie die Straße überquert, Via Verdura hieß sie, daran erinnerte sich Julia, denn dort gab es jeden Dienstag einen kleinen Markt, auf dem Marco und sie gern etwas Gemüse und Obst eingekauft hatten. Und danach standen ein paar Reihenhäuser, die, so wie sie aussahen, in den Fünfzigerjahren gebaut worden waren, aber im Jahr 1944 begannen dort wahrscheinlich noch die Felder.
Sie hatten also die Straße überquert, Molly und Mortimer, nach wie vor geduckt. Zwei Menschen, die sich gefährdet fühlen, wie Tiere, auf die jederzeit ein Jäger schießen kann. Und dabei hatten sie Glück gehabt, dass sie der deutsche Soldat mit dem Kindergesicht nicht gesehen hatte. Solche Kinder wie der, die vielleicht vorher schon in Russland gewesen waren oder auf dem Balkan (der reinste Horror, aber sie hatten ihn wie durch ein Wunder überstanden), Kinder, die jetzt, hierher versetzt, nicht noch im vorletzten Moment dieses blöden Krieges draufgehen wollten, schossen wahrscheinlich besonders schnell.
Doch dieser Soldat hatte sie nicht gesehen, sein Kopf unter dem Stahlhelm war vielleicht gerade woanders, am ehesten daheim, wohin er womöglich trotz allem nicht mehr kommen würde, und sie schlugen sich in die Felder. Weizen, der um diese Jahreszeit, es war Ende Mai oder Anfang Juni, schon schön hoch stand. Man hätte sich auf die Ernte freuen können, hätten die Deutschen, bevor sie dann endlich abzogen, nicht noch vorsorglich möglichst viel Ackerland vermint. Doch zum Glück war es noch nicht so weit, als Mortimer und Molly sich jetzt durch die Felder bewegten, von außen konnte man sie nun kaum mehr wahrnehmen, auch bei Tag hätte man meinen mögen, dass bloß der Wind im Korn spielte.
Und Julia stellte sich das sehr lebhaft vor.
Außen. Nacht. Molly und Mortimer in den Feldern.
Und vielleicht lag es an den Lichtern draußen, dass ihr nun die Glühwürmchen einfielen. Ende Mai, Anfang Juni ... da muss es dort unten jede Menge Glühwürmchen gegeben haben.
Sie sah das vor sich, sie war mit den beiden zwischen den Ähren, über denen Hunderttausende oder Millionen Glühwürmchen schwärmten. Und das mitten im Krieg, diesem Krieg zum Trotz – das war eine Vision, die Julia gefiel. Das würde auch Marco gefallen, ganz bestimmt. Julia freute sich schon darauf, ihm davon zu erzählen.
Aber wo wollten, wo konnten sie hin, Molly und Mortimer? Möglichst weit weg von den Maschinengewehren der Deutschen, möglichst weit weg von den Bomben der Alliierten. Außer Reichweite? Nein, das war unrealistisch. Und doch musste es einen Ort geben, an dem sie überleben konnten.
So weit war Julia mit ihren Notizen, als die Pass- und Zollkontrolle kam. Zuerst die österreichischen Beamten, dann die italienischen. Das unterbrach ihre Gedankengänge – sie wies ihren Pass vor und versicherte, dass sie nichts zu deklarieren habe. Als sie nach der Grenze die noch davor notierten Sätze überflog, bemerkte sie, dass sie statt überleben über
lieben
geschrieben hatte.
Dann hatte sie anscheinend doch ein wenig geschlafen. Als sie kurz aufwachte, stand der Zug im Bahnhof von Mestre. Lautsprecherstimmen sagten irgendetwas, das sie nicht verstand. Als die Räder des Waggons, in dem sie saß, weiterrollten, fielen ihr wieder die Augen zu.
In Vicenza wurde ihr klar, dass sie sich jetzt zusammennehmen musste. Nicht wieder einnicken, dachte sie, sonst versäumst du Verona! Aber dann war sie da: Verona Stazione Porta Nuova. Und trank zuerst einmal einen doppelten Espresso.
11
Marco würde drei Stunden später ankommen als sie. Zwar hatte er, verglichen mit
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