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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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ihr, den weitaus kürzeren Anfahrtsweg. Aber der erste Zug, in den er nach seinem Nachtdienst steigen konnte, fuhr kurz nach sieben in Alessandria ab. Er war also jetzt wahrscheinlich erst irgendwo zwischen Voghera und Pavia.
    Julia stellte sich vor, wie er im Zug saß und wahrscheinlich las. Das tat er tatsächlich. Er las das Buch, das er auf dem
Unità
-Fest gekauft hatte.
Sind die Intellektuellen eine autonome und unabhängige gesellschaftliche Gruppe oder hat jede gesellschaftliche Gruppe ihre eigene spezialisierte Kategorie von Intellektuellen?
Zweifellos eine interessante Frage, aber die Sätze, in denen der verehrte Antonio Gramsci ihr nachging, waren oft lang und kompliziert, und manchmal nickte er darüber ein.
    Sie ließ sich inzwischen durch Verona treiben. Bis zu Marcos Ankunft waren noch immer zwei Stunden Zeit, aber das war in Ordnung. Es waren ja zwei Stunden der Vorfreude. Bei ihrer Ankunft hatte sich die Stadt noch grau unter einer Nebeldecke versteckt, aber jetzt, nach und nach, enthüllten sich ihre schönen Pastellfarben.
    Und er war immerhin bereits in Milano. Diese Station konnte er nicht verschlafen, denn der Zug, mit dem er aus Alessandria gekommen war, fuhr dort nicht weiter. Allerdings musste er eine halbe Stunde auf den Anschlusszug warten. Inzwischen trank auch er einen doppelten Espresso und danach, weil er ein etwas flaues Gefühl im Magen verspürte, einen Fernet Branca.
    Und dann saß Julia schon in der Cafeteria auf der Piazza delle Erbe, dem Platz, an dem sie einander treffen wollten. Und Marco saß im
Direttissimo
Milano–Venezia, der gegen halb elf in Verona halten würde. Er hatte das Foto dabei, das sie per Post nicht bekommen hatte, dazu noch das Foto mit dem sizilianischen Tuch, das an ihr so apart orientalisch wirkte. Und gerade dieses Foto hätte er nun gern aus dem Kuvert genommen und angesehen, aber die Männer, die mit ihm im Abteil saßen, hätten wahrscheinlich Stielaugen bekommen und blöde Bemerkungen gemacht.
12
    Und dann war es so weit. Auf der Piazza delle Erbe, mitten durch die Marktstände, die dort am Vormittag aufgebaut waren, kam Marco auf Julia zugelaufen. Sie wartete wie vereinbart am Brunnen, in dessen Mitte die Madonna Verona auf ihrem Sockel steht, eine steinerne Dame mit blecherner Krone. Und gleich brachte er Julia zum Lachen, weil er, pantomimisch talentiert, wie er war, so tat, als käme er angeflogen (auf den Flügeln der Liebe, wie er nachher erläuterte). Was gar nicht so leicht war, denn er hatte ja auch eine kleine Reisetasche dabei, die er an einem Riemen über der Schulter trug, und bei dem Geflatter, das er simulierte, musste er aufpassen, dass sie ihm nicht entglitt oder dass er mit ihr nicht irgendwo hängen blieb.
    Und sie umarmten einander, und er war ganz Marco. Fühlte sich an wie Marco, roch wie Marco, schmeckte wie Marco. Redete wie Marco, in seiner schönen, musikalisch artikulierten Sprache. Nur ein bisschen blass sah er aus, verglichen mit seiner sommerlichen Erscheinungsweise.
    In einer der Bars am Rand des Platzes stießen sie mit Spumante, der in schönen, langstieligen Gläsern serviert wurde, auf ihr glückliches Wiedersehen an. Und dann beschlossen sie, ein Hotel zu suchen. Oder nein: Sie mussten erst gar keines suchen, sondern Marco wusste schon eines und hatte dort, wie sich herausstellte, bereits ein Zimmer reserviert. Das war ein bisschen verdächtig, aber Julia wollte gar nicht so genau wissen, wieso er dieses Hotel so gut kannte und mit wem er hier womöglich schon gewesen war.
    Und vielleicht war ja alles ganz unverfänglich, sie war ja schließlich auch schon früher in Verona gewesen. Allerdings mit ihren Eltern und ihren zwei jüngeren Brüdern, und das war eine fast peinliche Erinnerung. Julia mit dreizehn oder vierzehn, ein Mädchen, das sich nichts als unbehaglich gefühlt hatte in den Kostümen, die ihre Mutter damals immer noch für sie auswählte. Der Vater hatte ständig sehr langweilige Artikel aus dem Baedeker vorgelesen, in dem gleichen Tonfall, in dem er daheim in der Sonntagsmesse, deren Besuch für die Familie obligat war, als so genannter Lektor aus den Evangelien vorlas, die Brüder hatten sich für nichts anderes interessiert als für
gelato
und Tischfußball, und der Mutter war es vor allem darum gegangen, dass sie auf dem Markt nicht betrogen oder bestohlen wurden, dass keins ihrer Kinder im Getümmel verlorenging und dass ihr Mann, der angeblich kein Olivenöl vertrug, keine Gallenkolik

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