Mortimer & Miss Molly
sehe ja ein, schrieb er, dass man es im Operationssaal brauche. Aber in den Krankenzimmern finde er es fragwürdig. Wie bleich die Patienten unter diesem Licht aussähen! Er sei jetzt auf der Internen Abteilung, dort gehe es etwas weniger hektisch zu als auf der Ambulanz, aber hier falle es ihm manchmal schwer, die lähmende Traurigkeit abzuwehren, die ihn beim Anblick der oft schon recht alten und aussichtslos Kranken erfasse.
Auch habe er gewisse Probleme beim Setzen von Injektionsnadeln. Es koste ihn jedenfalls immer einige Überwindung. Und es gelinge nicht immer beim ersten Versuch. Das liege zum einen daran, dass diese alten, matten Menschen manchmal keine deutlich hervortretenden Venen haben, zum anderen aber gewiss daran, dass er im Grunde genommen gar nicht hinschauen, sondern am liebsten wegschauen würde.
Aber so etwas gebe sich mit der Zeit. Mit diesen Worten tröste ihn Schwester Laura. Vor ein paar Jahren hätten sie einen jungen Arzt hier gehabt, der konnte anfangs kein Blut sehen. Er habe das überwunden, und heute sei er ein berühmter Chirurg.
Er wisse nicht, ob das wahr sei, schrieb Marco, den Namen des angeblich berühmten Chirurgen habe ihm Schwester Laura nicht gesagt. Aber sie sei eine nette, humorvolle Person.
Ach ja?, dachte Julia. Ist sie das, Schwester Laura?
Doch kaum hatte sie das gedacht, genierte sie sich für diese kleinliche Anwandlung von Eifersucht.
Lieber Marco, schrieb sie, Du wirst es schon schaffen! Zwar war sie keineswegs überzeugt, dass er in diesem Spital, so, wie er es beschrieb, am richtigen Platz war, aber sie wollte ihn nicht noch demotivieren. Was sie selbst betraf, so hatte sie ja auch ihre Probleme. In das Dissertantenseminar, zu dessen Vorbesprechung sie wegen des Ausflugs nach Verona nicht erschienen war, wollte sie der Professor, ein pedantischer alter Herr, nun nicht mehr aufnehmen.
Aber wer weiß, wozu das gut ist, schrieb sie. Da es ein Seminar dieser Art erst wieder im nächsten Herbstsemester gebe, bleibe ihr nun ein Jahr, um zu überlegen, ob sie mit ihrem Studium überhaupt auf dem richtigen Weg sei. Tatsächlich habe sie sich, als sie mit dem Studium der Psychologie begonnen habe, etwas recht anderes darunter vorgestellt. Mehr Humanwissenschaft und weniger Naturwissenschaft, mehr Einfühlung in die Psyche anderer Personen und weniger steriles Experimentieren unter Laborbedingungen, vor allem aber weniger Statistik und Mathematik.
Außerdem bleibe ihr auf diese Weise mehr Zeit, um Italienisch zu lernen. Der Kurs am Kulturinstitut, in dem sie nun jeden Dienstagabend zwei Stunden verbringe, mache ihr Freude.
Italienisch für Fortgeschrittene
– o doch, das traue sie sich zu. Es sei schon wahr, dass sie gewisse Schwächen bei der Anwendung der Tempi und Modi habe, aber ihr Wortschatz und die fast authentische Aussprache, die sie sich im Umgang mit Marco angeeignet habe, versetze die anderen Kursteilnehmer manchmal in Erstaunen.
Trotzdem meine der Kursleiter, dass sie einiges nachzuholen habe. Fulvio heiße der. Ein sympathischer Mensch. Er sei sogar bereit, ihr privat Nachhilfestunden zu geben. Das habe er ihr letzten Dienstagabend gesagt, als sie, ein paar Minuten nach Kursende, noch einmal ins Institut zurückgekehrt sei, weil sie dort ihren Schirm vergessen hatte.
So, dachte Marco, sie hat ihren Schirm vergessen.
Che caso carino!
Was für ein hübscher Zufall! Und der Kursleiter!
Ecco: un vero italiano!
Aber kaum hatte er das gedacht, schämte er sich für seinen Verdacht.
19
In den folgenden Wochen verschob sich der Anteil von Französisch und Italienisch in Julias Briefen deutlich zugunsten des Italienischen. Außerdem verwendete sie Grammatikformen, die sie früher nicht verwendet hatte. Das
passato remoto
zum Beispiel und den Konjunktiv. Der Besuch des Italienischkurses tat seine Wirkung.
Auch wenn sie telefonierten, fiel das auf. Julia machte weniger Fehler und sprach gewandter. Marco beglückwünschte sie:
Auguri!
, sagte er. Obwohl es ihm um gewisse, kleine Fehler, die sie bis dahin gemacht hatte, fast leidtat.
Nur
en passant
kam er auf die Nachhilfestunden zu sprechen. Die trügen doch sicher auch zu diesen Fortschritten bei. Ach ja, die Nachhilfestunden, sagte sie. Und er hatte den Eindruck, dass sie dabei lächelte.
Die seien recht intensiv, die Nachhilfestunden. Sie treffe Fulvio, sagte sie, zwei Mal pro Woche.
So, du triffst ihn?
Ja, klar, lachte Julia. Was für eine Frage! Wie sollte er denn sonst Stunden geben?
Er gibt dir die
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