Mortimer & Miss Molly
zwar (noch als Schülerin in Krems) die Führerscheinprüfung gemacht, aber das Fahren war ihr nie ein wirkliches Anliegen gewesen. Sie war, fand sie, eine gute Beifahrerin, besonders gut und gern war sie bisher neben Marco auf dem Beifahrersitz gesessen, aber nun mussten sie Platz tauschen.
Den kurzen, aber holprigen Weg in den Ort zu fahren, war für sie alles andere als ein Vergnügen. Zugegeben, sie hatte wenig Praxis, aber davon, dass ihr Marco ständig dreinredete, wurde es auch nicht besser. Diese absurde Angst um den blöden Volvo! Manchmal war sie nahe daran, auszusteigen und ihn mitsamt diesem ihr unsympathischen Fahrzeug seinem Schicksal zu überlassen.
Dann wieder erschrak sie über solche Gedanken. Was sollte denn das? War er nicht ihr Marco? Sie liebte ihn doch! Und jetzt war er noch dazu so arm mit seinem verletzten Knöchel. Und wer weiß, vielleicht war die Verletzung ja wirklich ernster, als sie geglaubt hatte, und es war enorm wichtig, ihn zum Arzt zu bringen.
Auch dass er ihre Fahrweise bekrittelte, musste sie unter diesen Umständen nicht so krummnehmen. Er hatte Schmerzen, er war gereizt, er war halt nervös. Sie war ja übrigens auch gereizt und das mit gutem Grund. Aber vielleicht konnte man über dieses Amerika-Projekt, das sie vorgestern Nacht so empört hatte, noch einmal sachlich diskutieren – jetzt war es zuerst einmal wichtig, dass der Knöchel versorgt wurde.
Sie fuhr also weiter, und auf der asphaltierten Straße ging es ohnehin besser. Zwar holperte es dann auf dem alten Pflaster in der Via Poliziano wieder einigermaßen, aber im Ortszentrum durfte man ohnehin nur im Schritttempo fahren. Und das Einparken vor dem Haus des Doktors gelang problemloser, als sie befürchtet hatte. Na komm, sagte sie und half ihrem versehrten Freund aus dem Wagen.
5
Doktor Tozzi war ein älterer Herr in einer bordeauxroten Hausjacke mit zu Berge stehenden weißen Haaren. Er wirkte etwas überrascht über das Paar, das da vor seiner Tür wartete. Marco, auf Julias Schultern gestützt, das rechte Bein etwas angezogen, wie ein Tier, das sich einen Dorn eingetreten hat. Wissen Sie, sagte der Arzt, eigentlich ordiniere ich gar nicht mehr.
Und das schon seit mehr als zwei Jahren – die Zeit vergeht! Aber kommen Sie weiter, wenn Sie schon da sind. Sie haben sich also die rechte Hinterpfote verletzt. Nehmen Sie Platz. Legen Sie bitte den Schuh und den Socken ab.
Er betrachtete und betastete Marcos Knöchel. Schöne Farben, sagte er. Und hübsch angeschwollen. Ein paar Stellen berührte er gezielt mit Daumen und Zeigefinger. Tut es hier besonders weh?, fragte er. Und hier? Na bitte, das sei ja halb so schlimm.
Also, meines Erachtens, sagte er schließlich, ist das kein Bruch.
Siehst du, sagte Julia.
Allenfalls ein Muskelfaserriss, sagte der Doktor.
Aber könnte es nicht ein Bruch in der Höhe des Volkammschen Dreiecks sein?, fragte Marco. Ich meine, ich bin weder Orthopäde noch Physiotherapeut, aber während meiner Ausbildung ...
Aha, lächelte Tozzi, Sie sind also ein Kollege.
Ja, sagte Marco.
Und welches Fachgebiet haben Sie sich ausgesucht?
Die Augenheilkunde.
Wie schön, sagte Doktor Tozzi. Darauf hätte ich mich auch gern spezialisiert, aber als ich studiert habe, hat man hier in der Gegend noch weniger Spezialisten gebraucht als einen Onkel Doktor für alles und jedes.
Das sei schon sein Vater gewesen, erzählte er. Der sei noch mit dem Pferd von Gehöft zu Gehöft geritten. Geburtshelfer (nicht nur für Menschen, sondern gegebenenfalls auch für Schafe und Rinder). Manchmal auch der, der am Sterbebett saß und den Leuten noch gut zuredete. Und der, der für alles dazwischen zuständig war. Für alle ortsüblichen Krankheiten und Abnützungserscheinungen. Vom Schnupfen bis zur Malaria, die wir damals auch noch hatten, vom Hexenschuss bis zum Bandscheibenvorfall. Verstauchungen und Zerrungen und Prellungen und Brüche aller Art.
Mein Vater hätte Ihnen einfach eine seiner selbst gemixten Salben gegeben, sagte Doktor Tozzi. Er hat immer eine Apothekertasche dabeigehabt. Ich werde Ihnen auch eine Salbe verschreiben, wenn auch keine selbst gemixte, und eine elastische Fixierbinde. Aber um sicherzugehen, dass wir nichts verabsäumen, sollten wir vielleicht doch ein paar Röntgenbilder haben.
Und wo können wir die hier machen lassen?, fragte Marco.
Am besten im Krankenhaus oben in Montalcino, sagte der Doktor. Dort kennen mich noch ein paar Leute. Wenn Sie wollen, fahr ich mit Ihnen dort
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