Mortlock
sprang Josie auf und zupfte ihren Rock zurecht. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
»Da bist du nicht die Einzige«, sagte Arabella und strich sich mit zitternder Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Lord Corvis hat mich den ganzen Tag nicht mehr hier raufgelassen. Ich wusste nicht mal, ob ihr noch lebt.«
»Da hat auch nicht viel gefehlt«, erwiderte Josie. »Es war furchtbar, Arabella. Wir waren da unten in dem schrecklichen Keller, zusammen mit Lord Corvis.«
»Er hat gesagt, heute Mittag bringt er einen von uns beiden um«, flüsterte Alfie.
Entsetzt schlug Arabella die Hand vor den Mund.
»Was ist mit diesem Sammy?«, fragte Josie und packte sie am Arm. »Bleibt es dabei, dass er die Lieferung übernimmt? Und Jacob Carr, wird er da sein?«
»Keine Sorge«, sagte Arabella. »Sammy kommt. Sobald die Damen beschäftigt sind, lenke ich ihn ab, und ihr schleicht euch raus. Ich lasse den Riegel jetzt offen. Eigentlich müsste alles klappen. Aber denkt dran, Jacob kann nicht lange warten. Lauft direkt zum Anleger, sonst verpasst ihr das Boot.«
»Wir halten Ausschau nach Sammy und machen uns bereit«, versicherte Alfie ihr. Arabella lächelte ihnen noch einmal tapfer zu und ging.
Josie stocherte mit dem abgebrochenen Stuhlbein in der kalten Asche herum. »Ich habe vor lauter Grübelei kaum geschlafen, Alfie.«
»Ging mir genauso. Aber wenn dieser Corvis denkt, er könnte uns so leicht auseinanderreißen, hat er sich geschnitten.«
Josie warf das Stuhlbein in den Kamin. »Ich dachte, Arabella hätte uns im Stich gelassen. Ich dachte, es wäre alles schiefgegangen und Sammy würde nicht kommen …«
»Keine Angst, wir verpassen ihn schon nicht«, sagte Alfie und schaute zum Fenster hinaus. »Da ist er ja schon!«
Ein rothaariger Junge schob mühsam die Karre zum Haus hinauf. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, und immer wieder rutschten seine Füße auf dem unebenen Weg ab.
»Er kommt kaum vorwärts«, sagte Josie angespannt. »Was ist, wenn er den Sack fallen lässt?«
Ein paar Krähen umkreisten ihn, wie sie es zuvor auch bei Jacob getan hatten, und Josie sah Angst auf dem Gesicht desJungen. Dann tauchte Arabella unten auf den Stufen auf und lief ihm entgegen.
»Braves Mädchen«, murmelte Alfie. »Die Krähen zählen jetzt bestimmt: zwei rein …« Plötzlich drehte er sich zu Josie um. »Komm, lass uns zur Treppe gehen, damit wir bereit sind.«
Sie schlüpften in den dunklen Flur und schlichen zur Treppe. Vorsichtig beugte Josie sich über das Geländer. Sie hörte, wie die Tanten unten aufgeregt umherflatterten. Sie umringten Sammy, stupsten ihn und strichen ihm übers Haar. In der Eingangshalle breitete sich der Gestank seiner widerlichen Last aus.
»Ein neuer Junge«, sagte Tante Mag mit funkelnden Augen. »Schaffst du das denn ganz allein, junger Mann?«
»Du bist spät dran, Kleiner – wo hast du dich denn herumgetrieben? Wir haben Hunger!«, fügte Tante Jay hinzu.
»Kommt Mr Carr heute nicht?«, krächzte Tante Veronica und streichelte Sammys Arm.
Sammy stand stumm und bleich da. Es war nicht zu übersehen, dass die Tanten ihm Angst einjagten. Der Sack auf seinen Schultern bebte ebenso sehr wie sein Körper.
»Bring ihn einfach hier herein, mein Junge – um alles andere kümmern wir uns.« Tante Jay zwinkerte ihm schelmisch zu und leckte sich mit ihrer schwarzen Zunge über die aufgesprungenen Lippen. Arabella stand in der Tür zum Dienstbotentrakt und versuchte, Sammys Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Na los, mach schon«, keckerte Tante Veronica und versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken, dass er durch die Halle taumelte. Dann wandte sie sich zu Arabella um. »Und du kümmere dich um deine Pflichten, Mädchen!« Arabellapresste die Lippen zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Josie starrte Alfie entsetzt an. Und jetzt? Wie sollte es weitergehen?
Die Tanten schubsten Sammy in den Nebenraum. Josie hielt den Atem an.
»Komm, nichts wie weg hier«, zischte Alfie.
»Nein!« Josie packte ihn am Ärmel. »Noch sind die Tanten nicht bei ihrem Mahl. Außerdem muss Arabella Sammy im Haus festhalten, damit wir Zeit für die Flucht haben – schon vergessen?«
»Komm schon, Bella, wo steckst du?«, flüsterte Alfie. Sie beobachteten die Tür zum Dienstbotentrakt. Nichts. In der Halle herrschte Stille, abgesehen vom gedämpften Gekecker der Tanten, das aus dem Nebenraum herüberklang.
»Wo ist sie hin?«, zischte Josie.
Plötzlich erklang
Weitere Kostenlose Bücher