Mortlock
Tanten sich gerade über einen Haufen Eingeweide hermachten. Sie half Arabella, ihre Haube zuzubinden. Das Mädchen sah völlig verwirrt aus, weinte und rieb sich den Arm.
Einen Arm um Arabella gelegt, trat Josie nach draußen und ging mit schnellen Schritten die Zufahrt hinunter. Alfie stolperte hinterher. Trotz ihrer Eile bemühten sich die drei verzweifelt, keinen Verdacht zu erregen. Hinter ihnen brüllte Corvis wie ein Wahnsinniger. Die Mäntel waren schwer, und die Hauben fühlten sich kratzig an. Jeder Schritt auf dem knirschenden Kies schien ihre Flucht zu verraten. Josie hörte ihre keuchenden Atemzüge, die sich mit denen von Alfie und Arabella mischten.
Ein riesiger schwarzer Rabe flog über sie hinweg und landete auf der Wiese. Er legte den Kopf schief und musterte sie. Sie gingen weiter. Seine Flügel rauschten, als er sich wieder in die Luft erhob. Dann stieß eine Krähe keckernde Rufe aus, die Josie an den Nerven zerrten. Sie spürte, wie Arabella bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Immer mehr von den zahllosen schwarzen Vögeln raschelten mit dem Gefieder und krächzten ratlos. Sie wirkten verwirrt, aber zumindest blieben sie auf ihren Aussichtspunkten auf dem Dach und den Simsen von Rookery Heights.
Die drei eilten weiter, durch das Tor und hinaus auf die Straße. In der Ferne, über dem Gestrüpp der Marsch, konnte Josie bereits die dunkelroten Segel von Jacobs Frachtkahn erkennen.
»Sieh nur, wir sind schon fast da«, murmelte Josie und drückte Arabellas Schulter. »Sobald wir auf dem Boot sind, kann uns nichts mehr passieren.«
»Ich mache drei Kreuze, wenn ich diese dämliche Haube loswerde«, zischte Alfie.
Arabella stieß ein leises Stöhnen aus und deutete auf die Segel. Sie bewegten sich! »Wie’s scheint, hat Sammy mit der Lieferung länger gebraucht, als wir dachten. Mr Carr hat gesagt, er kann höchstens zwanzig Minuten warten. Er hat abgelegt.«
Sie löste sich von Josie und lief stolpernd über die unebene Straße.
»Na los, Josie, nichts wie hinterher!«, rief Alfie, warf Mantel und Haube ab und rannte hinter Arabella her. Josie stand reglos da und sah zu, wie die Segel davonglitten. Zwischen ihnen und dem Boot erstreckte sich ein breiter Streifen Marschland – zähes Gras, durchzogen von schilfbewachsenen Wassergräben. Der direkteste Weg war mittendurch.
»Über die Straße schaffen wir es nie«, rief sie ihnen nach. »Wir müssen hier rüber.«
Arabella lief weiter, bereits außer Hörweite, doch Alfie blieb schliddernd stehen und blickte hin und her, unschlüssig, ob er ihr folgen oder sich Josie anschließen sollte.
»Aber die Marsch ist gefährlich«, wandte er ein. Dann starrte er mit offenem Mund zum Haus, das in einer schwarzen Wolke zu explodieren schien. Hunderte von Krähen und Raben wirbelten krächzend umeinander.
»Hier wird’s gleich noch viel gefährlicher«, sagte Josie, als die düstere Wolke sich in Bewegung setzte. »Wir müssen auf das Boot, egal wie.«
Sie drehte sich um und rannte los. Alfie tat es ihr gleich und holte sie bald ein. Im Laufen riss sie Haube und Mantel herunter. Der flatternde, kreischende Vogelschwarm hinter ihnen kam immer näher, während die roten Segel jenseits der Marsch sich immer weiter entfernten.
Am Ende des Tages, im Anbruch der Nacht
Suchten sich die zwei Kindlein ein steinernes Dach.
Sie schluchzten und seufzten in ihrer Not,
Am Morgen drauf waren die Kinderlein tot.
Feine Kindlein im Wald, feine Kindlein im Wald,
O gedenket ihr noch der Kindlein im Wald?
Kindlein im Walde
(Babes in the Wood)
,
altes Volkslied
22. KAPITEL
Verirrt im Nebel
Das wütende Keckern und Krähen wurde immer lauter, während Josie und Alfie sich durch die Marsch vorwärtskämpften. Josie taten die Beine weh, so mühsam war es, mit dem langen Rock durch das hohe, raue Gras zu stapfen. Sie verfluchte ihre unpraktische Kleidung und zog den Saum bis zu den Knien hoch.
»Alfie, kannst du das Boot sehen?«, fragte sie keuchend. Der Boden war so uneben, dass sie ständig stolperte. Mal trat sie auf ein hartes Grasbüschel, dann wieder versank ihr Stiefel in weichem Matsch. Alfie hatte sie überholt, aber auch er hatte Mühe, schnell vorwärtszukommen.
»Ich glaub schon«, japste er. »Aber die Sicht wird immer schlechter.«
Er hatte Recht. Ein feiner, grauer Dunst begann vom Boden aufzusteigen, der den Horizont verwischte und alles in der Ferne in einen Schleier hüllte. Josie warf einen Blick über die Schulter auf die Wolke
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