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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Mayhew
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KAPITEL

Heimkehr
    Als sie den Namen hörte, hielt Josie den Atem an. Sie spürte, wie Alfie nach ihrer Hand griff.
    »Lorenzos Unglaublicher Zirkus«, flüsterte sie. Sie sah das Plakat in Scrabsnitchs Laden wieder vor sich, den Zirkusdirektor mit den weit ausgebreiteten Armen, den Löwen mit der erhobenen Pranke, Madame Lilly.
    »Verzeiht mir.« Der Zirkusdirektor machte eine tiefe Verbeugung. »Wo habe ich nur meine Manieren? Ich bin Lorenzo, Herr über diesen Zirkus und euer Gastgeber …«
    »Dann müssten Sie unsere Mutter kennen, Madame Lilly«, sagte Josie, plötzlich hellwach, aufgeregt und voller Neugier. Doch Lorenzos Miene blieb lang und düster. Auch die anderen starrten sie mit grimmigen Gesichtern an.
    »Ihr seid Lillys Kinder?«, fragte er seufzend und schüttelte den Kopf.
    »Ja.« Josie strahlte. »Wie war sie? War sie so schön, wie man uns erzählt hat? Wie –«
    Lorenzo hob seine lange, schmale Hand. »Kinder, hebt euch eure Fragen für den Morgen auf. Jetzt müsst ihr euch erst mal ausruhen. Glaubt mir, wir haben noch mehr als genug Zeit, über alte Zeiten zu reden. Kommt mit.« Er drehte sich um und ging ihnen voran.
    Ein Frösteln überlief Josie, und die Müdigkeit kehrte zurück. Sie wandte sich zu Alfie um, der ihr dicht auf den Fersen folgte. Fernab des Feuerscheins sah er blass und verfroren aus. Müde schleppten sie sich hinter Lorenzo durch die kalte Nacht. Das harte Marschgras raschelte im Wind. Stöhnend stolperte Alfie hinter ihr her.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Josie leise.
    »Ich weiß nicht«, erwiderte Alfie. »Ich bin so erschöpft.«
    »Kein Wunder. Aber bald können wir ja schlafen.«
    Die Wohnwagen waren im Halbkreis um das große Zelt angeordnet, eckige schwarze Schatten, die in der nebligen Dunkelheit kaum zu erkennen waren. Vor dem ersten blieb Lorenzo stehen.
    »Hier könnt ihr euch zur Ruhe legen«, sagte er. »Und morgen lernt ihr dann die anderen kennen, wenn ihr mögt.«
    Josie stand in dem großen Zelt und warf ihre Messer. Klinge um Klinge traf in atemberaubendem Tempo ihr Ziel. Das Publikum jubelte und applaudierte, und Lorenzo deutete mit schwungvoller Geste auf sie.
    »Artemis, die Jägerin!«, rief er laut.
    Madame Lilly stand lächelnd am Rand der Manege und klatschte, dass die Ringe an ihren Fingern funkelten.
    Ich bin zu Hause
. Strahlend verbeugte Josie sich wieder und wieder.
Ich bin zu Hause …
    Bibbernd vor Kälte fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Die Decken waren zur Seite gerutscht, und im Wohnwagen war es so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte. Hastig zog sie die Decken wieder über sich und versuchte, das Glücksgefühl des Traums zu bewahren. Doch sie war jetzt hellwach, und so sah sie sich in dem engen Wohnwagen um.
    Alfie schlief in dem Bett auf der anderen Seite, so nah, dass sie ihn hätte berühren können. Er hatte sich so tief unter den Decken verkrochen, dass nur noch seine Atemwölkchen zu sehen waren. An der Wand über ihm hingen Töpfe und Pfannen, und in einer Ecke glühte matt das Fenster eines kleinen, runden Ofens. Josie erinnerte sich nicht mehr daran, wie sie ins Bett gekommen war; sie wusste nur noch, dass sie sich die nassen Kleider ausgezogen hatte.
    Draußen waren gedämpfte Stimmen zu hören. Ihre Neugier war stärker als die Kälte, und so trat sie an das übergefrorene Fenster, durch das trübes Mondlicht hereinfiel. Lorenzo stand dort und sprach mit jemandem, von dem Josie nur den Umriss sehen konnte.
    »Werden sie auftreten?«, fragte eine mürrische Stimme.
    »Sie haben keine andere Wahl«, sagte Lorenzo traurig. »Sie haben immer eine andere Wahl«, entgegnete die Stimme.
    Die beiden Gestalten verschwanden in der Dunkelheit, und der Rest ihres Gesprächs war nur noch ein undeutliches Murmeln.
    Ihr Herz machte einen Satz. Sie würden auftreten! Das Glücksgefühl ihres Traums war immer noch als leichtes Kribbeln zu spüren – diese freudige Wärme und die Begeisterung der Menge. Das war doch wunderbar! Aber warum hatte Lorenzo so niedergeschlagen geklungen? Vielleicht war er einfach immer so. Josie dachte an Cardamoms düstere Stimmungen, seine trostlose Einsamkeit jenseits der Bühne. Und wie kamen sie nur darauf, dass sie sich entschließen würde,
nicht
aufzutreten? Lächelnd kletterte sie wieder ins Bett. Das Auftreten lag ihr im Blut.
    Immerhin war die Schauergeschichte, die Arabella ihnenüber den Zirkus erzählt hatte, nicht wahr. Das hier war ein echter Zirkus, mit einem Zelt und Künstlern. Und immerhin

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