Mortlock

waren sie und Alfie hier sicherer vor den Tanten, die ihnen offenbar nicht durch die Marsch gefolgt waren.
    Es schüttelte sie. Sie mochte nicht darüber nachdenken. Viel lieber malte sie sich erneut aus, wie sie in die Manege kam und zu den schwungvollen Polkaklängen des Orchesters ihre Räder schlug. Nach einer Weile wurden Josies Lider schwer, und sie glitt wieder in ihre Welt aus Lichtern, Musik und Beifall.
    Ein lautes Poltern weckte sie, als Alfie frisches Holz in den Ofen warf.
    »Na, auch endlich wach?«, sagte er, während er in seine Hose stieg und sich die Hosenträger über die Schultern zog. »Die ist jetzt einigermaßen trocken. Ich hab deinen Rock über den Ofen gehängt, damit’s nicht ganz so ungemütlich wird.«
    Widerstrebend schlug Josie die warmen Decken zurück und schlüpfte in ihre Jacke und ihren zerrissenen Rock. Der Saum fühlte sich noch feucht an, aber die Wärme vom Ofen half ein wenig gegen die Kälte.
    »Lorenzos Zirkus, Alfie«, sagte Josie voller Aufregung. »Wer hätte das gedacht? Hier können wir alles über Mutter herausfinden und auftreten und –«
    »Ja, schon gut … Komm, sehen wir uns erst mal um.« Alfie sah immer noch müde aus, die Augen verquollen und das Gesicht ganz blass.
    »Hast du nicht gut geschlafen?«, fragte Josie, während sie ihr Haar zusammenband. Das Haarband war eines der wenigen Dinge, die wieder richtig trocken waren, aber ohne Bürste ließ sich ihr Haar kaum bändigen.
    »Wie ein Stein, aber ich fühle mich immer noch wie der Tod auf Stelzen«, sagte Alfie.
    Sie traten hinaus in den grauen, kalten Wintertag. Ein dünner Nebel hüllte alles ein und verlieh den Wohnwagen etwas Gespenstisches. Der Horizont war nicht zu erkennen, und auch die Marsch schien verschwunden zu sein. Das Einzige, was existierte, war diese graue Welt. Alles drängte sich um das Zirkuszelt, das wie ein Berg aus dem Nebel aufragte.
    »Stell dir nur mal vor, Alfie, ein echter Zirkus!« Josie klatschte in die Hände. »Und bestimmt sind sie alle unsere Freunde, schließlich kannten sie Madame Lilly …«
    »Ich weiß nicht. Ich finde, es sieht alles ziemlich runtergekommen aus«, brummte Alfie und schob die Hände in die Hosentaschen. »Sieh dir doch nur mal die Wohnwagen an, überall blättert die Farbe ab, und die Fenster sind auch kaputt.«
    »Wahrscheinlich überwintern sie hier«, sagte Josie. »Im Frühjahr streichen sie sicher alles neu.«
    »Dieser verdammte Nebel geht mir auf die Nerven. Und hast du gehört, was Lorenzo gestern Abend gesagt hat?« Alfie zog ein langes Gesicht und imitierte den Akzent des Zirkusdirektors. »Hier könnt ihr euch zur
Rrruhe
legen … Das klang ja grad so, als wär’s für immer!«
    »Er hat’s doch bloß nett gemeint.« Josie schaute ihn fragend an. Warum sah er alles so negativ? Außerdem war es ungehörig, sich über Lorenzo lustig zu machen.
    »Und hör mal …«, sagte Alfie mit kritischer Miene.
    »Ich höre gar nichts«, erwiderte Josie gereizt.
    »Eben. Nicht mal ein Vogelzwitschern.«
    Josie ballte die Fäuste. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen. Er machte alles kaputt.
    »Na, zumindest hört man auch keine Krähen«, entgegnete sie schnippisch. »Denkst du etwa an Arabellas Schauergeschichte? Das hier ist nur ein Zirkus, Alfie. Und wenn wir ihn nicht gefunden hätten, wären wir mittlerweile wahrscheinlich erfroren. Diese Leute haben uns etwas zu essen und ein Bett für die Nacht gegeben – du solltest ihnen dankbar sein!«
    Plötzlich flitzte eine braune Fellkugel kreischend an ihr vorbei. Josie zuckte erschrocken zusammen. Ein Affe lief zwischen den Wohnwagen hindurch und schwang sich an den Seilen des großen Zeltes hoch. Ein massiger Mann in einem weiten karierten Anzug stapfte wütend hinterher. Sein unrasiertes Gesicht war noch halb mit weißer Schminke bedeckt, und er sah aus, als würde er das Tier am liebsten erwürgen.
    »Walnuss! Komm sofort hierher, du kleines Ungeheuer!«, bellte der Mann und versuchte, sich den Affen zu greifen, was nur dazu führte, dass das Tier noch weiter hochkletterte.
    Dann wandte der Mann sich ihnen zu. Josie sah, wie Alfie anfing zu zittern, und auch sie überlief ein kalter Schauer, als der Clown sie mit gelben, krummen Zähnen angrinste.
    »Soso, sind die Kleinen also nach Hause gekommen«, sagte er feixend und hakte die Daumen hinter seine roten Hosenträger. »Ich erinnere mich an euch. Wie könnte der alte Ulrico euch vergessen? Euch und eure reizende Mutter.« Er spuckte ihnen vor