Mortlock
die Füße und machte sich wieder an die Verfolgung des Affen, der vom Zelt heruntersprang und davonlief.
»Ulrico«, flüsterte Josie. »Von dem Plakat – erinnerst du dich?«
»Ich glaube, er mag uns nicht.« Unruhig sah Alfie dem schäbigen Clown nach, hinter dem sich der Nebel schlosswie ein Theatervorhang. »Und die Tatsache, dass wir Madame Lillys Kinder sind.«
»Tja, es kann halt nicht jeder die Liebenswürdigkeit in Person sein«, sagte Josie spitz. »Die Clowns im Erato waren auch alle schlecht gelaunt …« Sie wartete auf eine sarkastische Entgegnung, aber es kam keine.
»Ich wollt’s ja nur sagen.« Alfie sah verletzt aus.
»Besten Dank, aber –«, begann Josie, doch in dem Moment stoben plötzlich drei Kinder aus dem Wohnwagen neben ihnen, zwei Jungen und ein Mädchen, alle mit dichtem schwarzem Haar, dunkelbraunen Augen und breitem Lächeln. Der Älteste fiel auf die Knie, und die beiden anderen schlugen ein Rad über ihn hinweg. Sobald sie gelandet waren, sprang er auf und machte aus dem Stand einen Salto.
»Willkommen! Wir haben uns schon sehr darauf gefreut, euch kennenzulernen!«, sagte der Älteste fröhlich. »Ich bin Nicolao, und das sind mein Bruder Paulo und meine Schwester Ashena.« Die anderen beiden verneigten sich höflich, konnten jedoch keinen Moment stillstehen, sondern schubsten sich gegenseitig oder liefen auf den Händen. Josie lächelte schwach.
»Wir sind die Gambinis«, sagte Ashena. »Wollt ihr mit uns essen?«
Josie und Alfie nickten. Doch Josie betrachtete die abgetragenen, zerrissenen Kleider und die grauen Gesichter der Kinder. Sie sahen genauso aus wie all die anderen hier. Sie warf Alfie einen Blick zu. Er sah auch nicht viel besser aus mit den dunklen Ringen unter den Augen und den eingefallenen Wangen. Vielleicht kam das vom Leben hier draußen in der Marsch. Auf einmal fing er an zu schwanken und zu taumeln wie ein Betrunkener.
»Alfie, was ist mit dir?«, rief sie und packte ihn am Arm.
»Nichts. Bin bloß ein bisschen müde. Nach dem Frühstück geht’s mir bestimmt besser.«
Im Wohnwagen der Gambinis versuchte ein knisterndes Feuer im Ofen, die morgendliche Kälte zu vertreiben. Josie, die sich in eine alte Decke gewickelt hatte, entspannte sich ein wenig, als sie zusammen mit den anderen Kindern ihren dünnen Haferbrei aßen. Immerhin etwas Warmes im Bauch. Plaudernd saßen sie um einen kleinen Tisch herum.
»Tut mir leid, dass wir euch erschreckt haben«, sagte Paulo, der sich neben Josie gesetzt hatte. »Aber wir machen nie etwas anderes als Purzelbäume und Saltos.«
»Mein Vormund, der Große Cardamom, hat mir das auch beigebracht«, erwiderte Josie zwischen zwei Löffeln Haferbrei. »Wir hatten im Erato immer einen vollen Saal.«
»Erzähl uns mehr davon!«, rief Ashena und kniete sich neben Josie. Mit wachsender Begeisterung beschrieb Josie Cardamoms Auftritt, Gimlets Verschwindekabinette und Bühnenbilder und wie die Zuschauer über die Zaubertricks ihres Vormunds gestaunt hatten.
»Früher war Cardamom hier bei uns«, sagte Nicolao. »So ein glücklicher Mann …«
»Aber kein großer Zauberer.« Paulo grinste. »Klingt, als hätte er geübt.«
»Ihr habt ihn gekannt?«, sagte Josie aufgeregt.
»Wie kann das sein?« Alfie sah Josie irritiert an, den Löffel wie eine Waffe erhoben.
»Nein, nein … wir …«, stammelte Ashena. »Wir haben von ihm gehört, Lorenzo hat uns –«
»Egal, erzähl weiter. Wir lieben deine Geschichten«, unterbrach Nicolao sie lächelnd.
Aufmerksam lauschten die Gambinis, während Josie fortfuhr. Zwischendurch sah sie immer wieder zu Alfie, der ihr gegenübersaß. Er sah aus, als wäre er eingenickt, die Augen geschlossen, den Kopf schlaff zur Seite geneigt. Sie fragte sich, warum er so müde war.
Er hat doch gesagt, er hätte gut geschlafen
, dachte sie.
Das ergibt keinen Sinn
.
»Wie lange tretet ihr denn schon auf?«, fragte Josie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Gambinis zu, die sich mit ihren schmuddeligen Gesichtern um sie drängten.
»Unser ganzes Leben«, sagte Nicolao, und seine Stimme klang plötzlich distanziert. »Wir kennen gar nichts anderes.«
»Unsere Eltern sind gestorben, als wir noch ganz klein waren«, fügte Paulo hinzu. »Ein Unfall am Trapez.«
»Es heißt, als sie abgestürzt waren, hätten die Zuschauer sich fast gegenseitig niedergetrampelt, weil sie unbedingt die zerschmetterten Körper sehen wollten.« Ashena sah Josie tief in die Augen.
»Das ist ja schrecklich«,
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