Mortlock
nach Atem rang. Josie konnte nicht denken, sie sog nur gierig die Luft ein. Die Rufe der Krähen verklangen in der Ferne.
»Komm«, sagte sie mit klappernden Zähnen und zog Alfie ganz aus dem Wasserloch, wobei sie selbst das Gleichgewicht verlor und hintenüberfiel.
»Du bist genauso steif gefroren wie ich«, erwiderte er mit einem Grinsen und bot ihr seine Hand.
Sie stolperten durch das neblige Zwielicht, ohne jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Nichts rührte sich, nur ihr erschöpfter Atem und das Knirschen ihrer Schritte auf dem gefrorenen Gras durchbrachen die Stille.
Josie blieb stehen. »Wie lange gehen wir eigentlich schon?«, fragte sie, die Arme um sich geschlungen und bebend vor Kälte.
»W-Weiß nicht«, sagte Alfie. »Aber ich k-kann bald nicht m-mehr.«
Josie erwiderte nichts darauf. In der Ferne konnte sie das seltsame Licht durch den Nebel erblicken, nur schwach, aber seltsam verlockend.
»Da entlang«, sagte sie und deutete mit dem Finger darauf. Schweigend schleppten sie sich weiter und stützten einander, wenn sie stolperten. Sie brauchten ihre ganze Kraft, um in der bitteren Kälte nicht das Bewusstsein zu verlieren. Außer dem Licht, das sie zu rufen schien, nahmen sie nichts mehr wahr. Schatten flirrten an Josie vorbei, doch ihr Blick war starr geradeaus gerichtet.
Dann lichtete sich der Nebel, und das Licht entpuppte sich als flackernder Feuerschein, vor dem sich die eckigen Umrisse mehrerer Wohnwagen abzeichneten. Als sie näher kamen, konnte Josie Gestalten erkennen, die um ein großes Lagerfeuer saßen. Ihre tanzenden Schatten fielen auf ein riesiges graues Zirkuszelt, das hinter ihnen aufragte.
Josie beschleunigte ihren Schritt und zog Alfie mit sich. Ihr war schwindelig vor Kälte, aber die Wärme des Feuers lockte sie magisch an. Das kleine Grüppchen von Männern, Frauen und Kindern starrte sie verdutzt an, als sie in den Feuerschein traten.
Ein Mann löste sich aus der Gruppe. Er war groß und so unglaublich dünn, dass Josie sich einen Moment fragte, ob er auf Stelzen ging. Der schiefe Zylinder, der er auf seinem Kopf saß, verstärkte noch den Eindruck, dass er alle anderen überragte. Er trug einen Frack und gestreifte Hosen. Ein Zirkusdirektor, dachte Josie wie im Fieber. Das flackernde Licht des Feuers malte tiefe Schatten auf sein hageres, ausgemergeltes Gesicht, das fast wie ein Totenschädel aussah.Ein prachtvoller, mit Wachs gezwirbelter Schnurrbart stand rechts und links von seiner Oberlippe ab wie die Zeiger einer Uhr.
»Kommt, Kinder«, sagte der Zirkusdirektor mit starkem Akzent. »Ihr seht müde und hungrig aus. Setzt euch und esst etwas.«
Josie warf Alfie einen erschöpften Blick zu, dann ließen sie sich auf die vom Meer gebleichten Baumstämme sinken, die statt Stühlen um das Feuer angeordnet waren. Niemand sagte etwas, aber das störte Josie nicht. Allmählich verschwand die Kälte aus ihrem Körper, und ihre Kleider fingen an zu dampfen. Sie schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Wie gut die Wärme tat! Jemand schob ihr einen Teller in die Hand, und sie machte sich gierig über den Fleischeintopf und das Brot her, ohne sich um die Zuschauer zu kümmern. Alfie schaufelte ebenfalls das Essen in sich hinein, hielt aber zumindest kurz inne, um mit genussvoller Miene seinen Dank kundzutun. Der Zirkusdirektor nickte ihm lächelnd zu.
Erst als der Teller leer war und die Wärme Josies Fingerspitzen erreicht hatte, hob sie den Kopf und musterte die kleine Schar, die um das Feuer saß. Es war eine Mischung aus Frauen mit Kopftüchern, Kindern mit zerzaustem Haar und schmutzigen Gesichtern und Männern mit kantigen Gesichtszügen, goldenen Ohrringen und Zahnlücken. Doch sie sahen alle grau aus, als wäre die Farbe aus ihrer Haut und ihren zerrissenen, abgetragenen Kleidern herausgewaschen worden. Und obwohl sie lächelten, lag in ihren Augen ein tiefer Schmerz.
Der Zirkusdirektor wies auf den dunklen Bereich jenseits des Feuers. »Ihr müsst euch ausruhen. Ich bringe euch zu eurem Wagen«, verkündete er.
»Wir haben einen Wagen?«, fragte Josie und erhob sich schwankend.
»In Lorenzos Zirkus«, sagte der hagere Mann mit traurigem Lächeln, »ist immer Platz für verlorene Seelen.«
Neun Kinder hast du geboren.
Drei sind begraben unter deinem Bett,
Noch mal drei, wo dein Braukessel steht,
Noch mal drei am Anger dorfein,
Zähle, Mädel, und neun werden’s sein.
Die Maid und der Pilger
(The Maid and the Palmer)
,
altes Volkslied
23.
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