Mortlock
sagte Josie. »Und wer kümmert sich jetzt um euch?«
»Der Zirkus kümmert sich um alle, die zu ihm gehören«, antwortete Nicolao.
»Sogar bis in den Tod«, murmelte Paulo.
»Und Alfie, ist er auch ein Künstler?«, fragte Ashena. Ihre laute, helle Stimme durchbrach die düstere Atmosphäre und riss Alfie aus dem Schlaf.
»Nein«, murmelte er und rührte lustlos in seinem Haferbrei. »Ich bin ein Begräbniswärter.«
»Ein was?«, fragte Paulo mit verwirrter Miene.
»Ein Begräbniswärter«, wiederholte Alfie. »Ich arbeite bei Mr Wiggins, einem Leichenbestatter. Ich helfe ihm bei den Beerdigungen.«
Josie ärgerte sich über ihn. Warum machte er so ein mürrisches Gesicht? Er sollte doch froh sein, dass sie in Sicherheit waren. Wahrscheinlich passte es ihm nicht, dass sie mehr mit den Zirkusleuten gemein hatte als er. Er war neidisch, weiter nichts.
»Er ist so eine Art Schauspieler«, sagte sie und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Er geht hinter dem Sarg her und tut so, als wäre er traurig, selbst wenn er den Toten gar nicht gekannt hat.«
»Und dafür kriegst du Geld?« Nicolao schüttelte staunend den Kopf.
»Ich mach’s nicht nur deshalb«, sagte Alfie. »Es geht auch darum, Respekt zu zeigen und die Leute anständig unter die Erde zu bringen.«
»Das sieht dann so aus.« Kichernd stand Josie auf und ahmte Alfies langsamen steifen Beerdigungsgang nach. Dazu ließ sie den Kopf hängen und zog eine übertriebene Trauermiene.
Alle brachen in lautes Gelächter aus, nur Alfie warf wütend seinen Löffel auf den Tisch, sprang auf, dass sein Stuhl krachend umfiel, und stürmte türenknallend aus dem Wohnwagen.
Du grubst ein Loch in finstrer Nacht
Und hast dort unsere Leichen verbracht.
Du bedecktest das Loch mit Feldgestein,
Und dort ließest du unsere Knöchelein.
Die grausame Mutter (
The Cruel Mother
),
altes Volkslied
24. KAPITEL
Lorenzos Zirkus
Der silbrige Nebel lag immer noch über allem, als Josie in die Kälte hinaustrat, um Alfie zu suchen. Sie hätte sich nicht über ihn lustig machen sollen. Schließlich waren sie beide erschöpft und weit weg von zuhause.
Beide?
, fragte sich Josie. Was gab es für sie denn noch in London? Keinen Cardamom, keinen Gimlet. Die Leute aus dem Erato waren nett, aber sie standen ihr nicht nahe. Vielleicht könnte das hier ihr neues Zuhause werden, wie in ihrem Traum. Alfie hatte ja immer noch Wiggins. Er würde nicht verstehen, warum ihr der Zirkus so gefiel. Ein Schauer überlief sie. Wieder aufzutreten – das wäre wunderbar.
Wie aus dem Nichts tauchte Lorenzo vor ihr auf, nickte ihr zu und legte grüßend den Finger an den Rand seines Zylinders.
»Du bist auf Erkundungstour, wie ich sehe«, sagte er. Mit seinem langen dünnen Arm deutete er auf die Wohnwagen. »Viel gibt es nicht zu sehen. Wir sind nur ein kleiner Zirkus, nichts Besonderes.«
»Für mich ist er etwas Besonderes, Lorenzo«, erwiderte Josie lächelnd. »Es war der Zirkus meiner Mutter.«
»Ah, deine Mutter.« Nachdenklich strich er sich über seinen unglaublich langen Schnurrbart.
»Wie war sie?«
»Graziös wie eine Ballerina«, sagte Lorenzo. Seine Stimme wurde weicher, und ein sanftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Und wild wie eine Tigerin. Die liebevollste Mutter, die man sich denken kann. Sie war Wahrsagerin, aber sie hat auch getanzt und Akrobatik gemacht.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Manchmal hat sie sogar Messer geworfen. Es war eine Tragödie, dass sie uns verlassen hat und in die Stadt gegangen ist. Als sie zurückkam, war sie tot.«
»Sie ist an einem Fieber gestorben«, murmelte Josie. »So viel weiß ich.«
»Cardamom hat sie nach Hause gebracht.« Lorenzos Augen waren gerötet und schimmerten feucht. »Er wusste, dass sie hier bei uns sein wollte.«
Josie sah ihn überrascht an. »Sie ist hier beerdigt?« Vielleicht gab es ja ein Grab, das sie besuchen konnte.
Lorenzo schüttelte den Kopf. »Wir begraben unsere Toten nicht«, sagte er. »Sie lag in ihrem Wohnwagen, umgeben von allem, was ihr gehörte. Wir haben sie verbrannt, wie es unser Brauch ist.«
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Josie kam ein Gedanke: Vielleicht hatte Lorenzo ja auch ihren Vater gekannt. Über ihn wusste sie so gut wie gar nichts.
»Was ist mit meinem Vater?«
Lorenzo schwieg, und ein Schatten breitete sich über sein ausgemergeltes graues Gesicht. Schließlich seufzte er und strich Josie über die Stirn. »Er hieß Necros … Professor Necros – so hat er sich
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