Mortlock
zu sehen, hatte ihr einen Riesenschreck eingejagt. Er war alles, was sie noch hatte.
»Ich bin froh, dass du meine Schwester bist«, sagte er. Dann entspannte sich sein Gesicht, und der Schlaf übermannte ihn.
Josie betrachtete ihn. Sie war auch froh. Sie dachte an den grässlichen Jungen von ihrem ersten Besuch bei dem Leichenbestatter. Das war nicht der echte Alfie gewesen, sondern nur eine harte Schale, die er trug, um sich die schlimmenSeiten seines Lebens vom Leib zu halten. Aber sie hatte alle verloren, die sie gern gehabt hatte. Und jetzt ging es ihm so schlecht …
Plötzlich erschien Lorenzo am Fußende des Bettes. In dem engen, niedrigen Wohnwagen wirkte er noch größer als sonst. Josie hatte ihn nicht hereinkommen hören.
»Eine Art Anfall, vermute ich«, sagte er. »Der arme Junge.«
»Er hat sich schon den ganzen Tag nicht wohlgefühlt.« Josie blickte zu ihm auf. »Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«
»Die Marsch ist voller Krankheiten«, erwiderte Lorenzo achselzuckend. Sein langes Gesicht wurde noch länger. »Wir können nichts weiter tun, als es ihm bequem zu machen. Bald gibt es eine Vorstellung. Dann ist das nicht mehr wichtig.«
Eine Vorstellung? Bald?
Josie sah zu, wie Lorenzo Alfies Decken glatt strich. Der Zirkusdirektor sah aus wie ein riesiger Grashüpfer, den man in eine Streichholzschachtel gesperrt hatte. Sein Gesicht erinnerte an einen traurigen Totenschädel.
»Wann?«, fragte sie.
»Morgen Abend«, antwortete der Zirkusdirektor langsam. »Wenn wir Flut haben und die Leute kommen können.«
»Flut?« Josie war verwirrt. Was hatten die Gezeiten damit zu tun?
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Lorenzo. Seine Augen glühten wieder, und ein seltsames Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Übe mit deinen Messern, feile an deinem Auftritt und bereite dich auf die Vorstellung deines Lebens vor.«
Damit trat er von Alfies Bett zurück und verließ, immer noch leicht gebeugt, den Wohnwagen. Josie wandte sich wieder Alfie zu, der im Schlaf vor sich hin murmelte. Seine Haare klebten ihm schweißnass am Kopf.
Lorenzos Worte hallten noch in ihr nach, und ihr Magenkribbelte vor Aufregung. »An meinem Auftritt feilen«, flüsterte sie lächelnd. Er hatte noch andere Dinge gesagt, verwirrende Dinge, aber das Einzige, was sich ihr eingeprägt hatte, war
»die Vorstellung deines Lebens«
.
»Die Seile«, flüsterte Alfie und zupfte an ihrem Ärmel. Seine Augen waren fest geschlossen. Josie beugte sich zu ihm.
»Was hast du gesagt?«
»Die Seile … sieh dir die Seile an …« Alfies Augen öffneten sich einen Spalt, dann versank er wieder in unruhigem Schlaf.
Warum wollte er, dass sie sich die Seile ansah? Und welche überhaupt? Josie schüttelte den Kopf.
Wahrscheinlich fantasiert er
, dachte sie. Sie tauchte den Lappen in kaltes Wasser und legte ihn wieder auf seine Stirn.
Josie stand auf einer schmalen Plattform an der Spitze des Zeltpfostens und streckte die Arme aus. Sie war so weit oben, dass sie fast die Decke berühren konnte. An den Querbalken, die unter dem Zeltdach aufgespannt waren, hingen mehrere Trapezschaukeln und Seile. Das Orchester spielte eine muntere Melodie, und unten in der Manege tollten Clowns herum. In dem leeren Raum vor ihr schaukelte Paulo hin und her. Er holte Schwung und kam mit jedem Mal ein wenig näher.
»Die Seile, Josie, die Seile!«, rief Alfie von weit her. Sie sah hinunter zu den dicht besetzten Bänken, von wo die Zuschauer mit offenem Mund heraufschauten. Irgendwo da unten in der schwindelerregenden Tiefe war auch Alfies bleiches, narbengezeichnetes Gesicht.
Paulo schwang kopfüber auf sie zu, die Beine um eine Trapezschaukel gehakt. Seine Haare flogen im Wind, und auf seinem Gesicht lag ein irres Grinsen.
»Spring, Josie, ich fange dich auf«, rief er und streckte die Arme aus. Erneut blickte Josie nach unten. Ihr Mund war ganz trocken. Die Strickleiter, die in die Manege hinunterführte, schien immer länger zu werden. Es gab kein Netz. »Spring«, rief Paulo erneut.
»Die Seile!«
»Lass einfach locker.« Wieder schwang Paulos Gesicht auf sie zu. Seine Augen glühten fiebrig, und seine langen Finger sahen aus wie Klauen. »Wir passen schon auf dich auf.«
Josie griff nach dem Seil der Schaukel, die neben ihr hing, und ließ sofort wieder los. Es war kalt und glitschig, mit feinen grünen Algen überzogen.
»Sieh dir die Seile an!«, rief Alfies Stimme. Die Stange der Schaukel war mit Muscheln verkrustet, deren scharfe Kanten
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