Mortlock

Josie und schleuderte ein Messer tief in die Korkwand. »Das ist meine Arbeit. Ich bin Messerwerferin, schon vergessen?«
    »Es wäre besser, wenn wir uns überlegen würden, wie wir wieder nach London kommen.« Schlurfend kam Alfie näher. Er stolperte und schaffte es gerade noch, sich auf eine Bank fallen zu lassen.
    »Alfie, was ist nur los mit dir? Du siehst schrecklich aus, und du bist so miesepetrig. Hier sind wir in Sicherheit, und obendrein gibt es eine Vorstellung!« Josies Herz schlug schneller; bestimmt würde es ihm gefallen, die Zirkusnummern zu sehen. »Lorenzo möchte, dass wir mitmachen. Ich habe gehört, wie er letzte Nacht darüber geredet hat!«
    Alfie starrte Josie fassungslos an. »Was mit mir los ist? Was ist mit der Amarant? Und mit Corvis? Hast du das vergessen?Wir sind noch keinen Tag hier, und du redest nur noch von deinem blöden Auftritt und –«
    »Wie kannst du es wagen!« Wütend warf Josie ein weiteres Messer. »Natürlich habe ich das nicht vergessen.«
    Doch Alfie saß nur reglos da und starrte zum Eingang. Ein glänzender schwarzer Rabe kam hereingeflogen und landete auf einer Bank. Er sprang in die Manege und musterte sie mit schief gelegtem Kopf. Josie sah das boshafte Funkeln in seinen Augen.
    »Meinst du, der gehört zu Corvis?«, flüsterte Alfie erschrocken.
    »Wie du schon gesagt hast, hier scheint es keine Vögel zu geben«, erwiderte Josie leise. »Also muss er zu Corvis gehören.«
    Ganz langsam streckte sie die Hand aus und griff nach einem der Messer. Die Bewegung durchbrach den Bann; es war, als wüsste der Vogel, was sie vorhatte. Mit einem Krächzen breitete er die kräftigen Flügel aus und schwang sich in die Luft.
    »Er fliegt zu der Öffnung da oben«, rief Alfie. »Wenn er uns entkommt, führt er womöglich die Tanten hierher …«
    Josie zielte auf einen Punkt etwas oberhalb des Raben und warf. Das Messer wirbelte durch die Luft und traf ihn mitten in die Brust. Das wütende Krächzen verstummte, und der Vogel landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Die Flügel zuckten noch ein paarmal, dann blieb er reglos liegen.
    Seufzend zog Josie das Messer heraus. »Es ist so ungerecht. Ich will einfach nur mal wieder so sein wie früher. Ich vermisse Cardamom und Gimlet.« Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen weg. »Und ich vermisse all dashier.« Sie deutete mit der Hand auf das Zelt um sie herum. »Ich will, dass alles ganz einfach ist, wenigstens für einen Moment. Ich will wieder Artemis sein und Messer werfen, und die Zuschauer klatschen, und ich verbeuge mich. Und es gibt keine Ghule und keine Krähen und keinen Corvis und keine Amarant.«
    Alfie schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich ja, aber die verschwinden nicht einfach. Und irgendwas stimmt hier nicht, Josie, merkst du das nicht?«
    Bevor Josie antworten konnte, kamen die Gambinis ins Zelt. Ashena ging auf ihren Händen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.
    »Lorenzo sagt, wir geben bald eine Vorstellung«, sagte sie und sprang auf die Füße.
    »Er will, dass du mit uns übst und dass wir zusammen auftreten.« Nicolao hüpfte auf der Stelle.
    »Das freut uns sehr«, sagte Paulo strahlend und hielt ihre Hand ein wenig zu fest.
    Josie lächelte dünn. »Mich freut es auch, Paulo«, erwiderte sie und warf Alfie einen herausfordernden Blick zu. Doch ihr Bruder war zu Boden gesunken. Seine Augen waren verdreht, sodass man nur noch das Weiße sehen konnte, und er bebte am ganzen Körper.



Die Liebste kam nächtens
    Als Tote zu mir.
    Sie trat so sacht auf,
    Dass kein Ton kam von ihr.
    Sie legt’ die Hand auf mich
    Und sprach zu mir zag:
    »Es ist nicht mehr lang, Schatz,
    Bis zum Hochzeitstag.«
    Sie ging über den Markt
(She Moved through the Fair)
,
altes Volkslied

25. KAPITEL

Das Geheimnis der Seile
    Alfie lag blass und reglos unter seinen Decken. Josie beugte sich vor und legte ihm ein nasses Tuch auf die heiße Stirn. Seine Augen öffneten sich, und er zog eine Grimasse.
    »Wusste gar nicht, dass du auch zur Krankenschwester taugst«, sagte er mit schwachem Lächeln.
    »Wenn ich schon plötzlich einen Bruder habe, muss ich mich ja wohl auch um ihn kümmern, oder?«, erwiderte Josie schmunzelnd. »Wie fühlst du dich?«
    »Völlig am Ende … Wie nach den Wiedererweckungen.« Er hustete. »Nur schlimmer. Josie?«
    »Ja?«
    »Lass uns nicht mehr streiten. Wir müssen zusammenhalten.«
    Josie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, wir streiten nicht mehr.« Alfie so am Boden liegen