Mortlock
nett. Wir sind deine Freunde … Wir passen auf dich auf.«
Josie riss ihre Hand aus dem klammen Griff. »Ich muss nach Alfie sehen«, murmelte sie. Doch Ashena packte sie am Rocksaum. Ihr lächelndes Gesicht wirkte seltsam hohlwangig, großäugig … geradezu verzweifelt.
»Wir können für immer deine Freunde sein, Josie«, flüsterte Ashena. »Wir können jeden Abend zusammen auftreten, in alle Ewigkeit. Wäre das nicht wunderbar?«
Entsetzt wich Josie zurück. »Ashena, ich muss gehen. Bis später dann.« Sie warf die Tür hinter sich zu und rannte zu ihrem Wohnwagen. Ihre Gedanken sprangen und wirbelten umher wie Akrobaten. Was war nur los mit Ashena? Und was sollte das heißen, sie könnten in alle Ewigkeit zusammen auftreten? Lorenzo hatte etwas ganz Ähnliches gesagt. Alfie hatte recht: Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum hatte sie das nicht schon eher bemerkt?
Ein aufgeregtes Kreischen riss Josie aus ihren Gedanken. Über ihr schaukelte Walnuss, der Affe, an einem der Seile, mit denen das Zirkuszelt befestigt war.
»Die Seile«, murmelte Josie. »Alfie hat gesagt, ich soll mir die Seile ansehen.«
Zum ersten Mal bemerkte sie, dass sie von grünen Algen überzogen waren, genau wie die dicken Eisenhaken zu ihren Füßen. Die Zeltleinwand war mit einer dünnen Schlammschicht bedeckt, sodass man kaum erkennen konnte, wo der Boden aufhörte und das Zelt anfing. Wieder stieß der Affeein Kreischen aus. Josie fühlte sich wie betäubt. Der Zirkus war schon lange nicht mehr weitergezogen, dachte sie, wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr.
»Du fängst an, die Dinge zu sehen, wie sie sind.« Lorenzo tauchte hinter ihr auf. »Aber das macht jetzt nichts mehr. Du bist bei uns, wo du hingehörst. Du wirst hierbleiben, in Sicherheit.«
Panik durchzuckte Josie. Lorenzo sah sie an. Sein Gesicht wirkte sanft und freundlich, aber in seinen Augen lag ein fiebriges Glühen.
»Wir können nicht hierbleiben«, sagte sie. »Wir müssen gehen.«
»Tja, so einfach ist es leider nicht«, seufzte Lorenzo und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Nach der Vorstellung heute Abend wirst du es verstehen. Niemand kann Lorenzos Zirkus verlassen.«
»Aber wir müssen«, drängte Josie. »Ich habe Cardamom versprochen –«
»Wir können nicht immer unsere Versprechen halten.« Lorenzo trat vor und ergriff Josies Hand. Seine Finger fühlten sich genauso an wie Ashenas: kalt, klamm und irgendwie gruselig. In seinen Augen lag dieselbe flehende Verzweiflung. »Du bist so lebendig, so schön, meine Kleine. Bleib hier bei uns.«
»Ich kann nicht … Und ich will auch nicht.« Josie wich zurück und entzog ihm ihre Hand.
»Du hast keine andere Wahl, meine Liebe.« Wieder seufzte Lorenzo, und seine Schultern sanken herab wie unter der Last des Wissens. Doch seine Augen glühten noch immer fiebrig. »Schließ dich uns an …«
Josie schüttelte den Kopf und lief davon. Tränen branntenin ihren Augen. Sie hatte sich geirrt – diese Leute waren unheimlich und gefährlich. Natürlich konnten sie und Alfie nicht für immer hierbleiben. Sie fühlte sich, als wäre ein Bann gebrochen. Wie hatte sie so blind sein können, dass sie den Verfall und die Verwahrlosung nicht bemerkt hatte? Sie hatte sich vom Zauber der Manege und von der Aussicht, wieder aufzutreten, blenden lassen. Wie hatte sie so schnell aus den Augen verlieren können, was wirklich zählte? Sie mussten die Amarant finden und vernichten! Sie waren Corvis entkommen, aber plötzlich begriff sie, dass sie immer noch Gefangene waren.
Denn ich schlafe bei den Würmern,
Kalter Lehm deckt mich zu,
Und brausen draußen die Stürme,
Liegt mein Leib und hat Ruh.
Stolze Lady Margaret
(Proud Lady Margaret)
,
altes Volkslied
26. KAPITEL
Das Publikum der Toten
Josie war nach der Begegnung mit Lorenzo wie betäubt umhergegangen und fand sich nun vor einem heruntergekommenen alten Wohnwagen wieder, der etwas abseits der anderen stand. Walnuss saß auf den Stufen und musterte sie mit seinen dunklen Augen. Einst war der Wohnwagen wohl kunstvoll bemalt gewesen, doch nun war die Farbe verblichen und abgeblättert und das Holz von Würmern zerfressen. Josie konnte noch die Überreste von Märchenfiguren, lachenden Gesichtern und Mond und Sternen erkennen. Etwas an dem Wohnwagen jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie wollte fort von hier. Der Affe stieß ein Keckern aus.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich bleibe nicht hier. Ich hole jetzt Alfie.« Sie drehte sich
Weitere Kostenlose Bücher