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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Mayhew
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jedenfalls genannt.«
    »Der Name auf dem Plakat«, rief Josie aufgeregt. »Ich habe seinen Namen im Laden von Scrabsnitch gesehen! Was war er für ein Mensch?«
    Lorenzo zuckte die Achseln. »Nur einer von vielen unbedeutenden Zirkuskünstlern. Er ging fort … Dann starb er … Er wollte mehr, als der Zirkus ihm jemals geben konnte. Ganz anders als deine Mutter.« Sein Gesicht wurde wieder weicher. »Sie liebte es aufzutreten. Das war ihr Leben –«
    »Genau wie bei mir!«, unterbrach Josie ihn. Sie schlang die Arme um sich. Wie viel sie mit Madame Lilly gemeinsam hatte!
    »Du bist so lebendig, Josie. Es wird sein, als wäre deine Mutter wieder bei uns.«
    Josie strahlte. »Darf ich mit Paulo und Nicolao Messerwerfen und Akrobatik üben?«
    »Aber natürlich.« Ein nachsichtiges Lächeln flog über Lorenzos abgehärmte Züge. »Im Zelt ist alles, was du brauchst.« Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Aber vielleicht solltest du erst mal deinen Bruder suchen. Ich habe gesehen, wie er aus dem Wohnwagen kam, und er sah nicht glücklich aus.«
    Josie seufzte. »Er ist so griesgrämig. Der Zirkus gefällt ihm überhaupt nicht.«
    »Trotzdem ist er dein Bruder. Ihr solltet keine bösen Gefühle zwischen euch wachsen lassen, sonst plagen sie euch in alle Ewigkeit«, sagte Lorenzo mit düsterer Stimme, dann wandte er sich um und verschwand wieder im Nebel.
    Josie sah ihm nachdenklich nach.
Was für eine seltsame Ausdrucksweise
, dachte sie.
»In alle Ewigkeit.«
Aber er hatte Recht: Je länger man damit wartete, desto schwieriger waren solche Dinge wieder geradezubiegen. Weit konnte Alfie nicht sein. Vielleicht war er in ihren Wohnwagen zurückgegangen. Sie würde ihn finden und sich mit ihm versöhnen.
    Der Eingang zu dem großen Zelt war offen, als Josie daran vorbeikam. Sie konnte sich nicht verkneifen, einen Blickhineinzuwerfen. In der Mitte ragte ein einzelner, mächtiger Pfosten in die Höhe, so dick wie ein Mensch; oben an der Spitze war eine Öffnung, die jedoch nur wenig Tageslicht hereinließ. Im Innern des Zelts herrschte ein düsteres Zwielicht, und Josie konnte kaum mehr als die mit Sägemehl bedeckte Manege erkennen, die den Pfosten umgab. Die Sitzbänke drum herum standen so dicht beieinander, dass der an sich große Raum überfüllt und beengt wirkte. An dem Pfosten lehnte eine Korkwand, und daneben stand ein Tisch mit zwölf silbernen Wurfmessern, die Josie in dem trüben Licht verlockend anfunkelten.
    Sie hatte seit Wochen nicht mehr geworfen – jedenfalls keine richtigen Wurfmesser und nicht zum Spaß –, nicht seit jenem schicksalhaften Abend, als die Tanten zu ihrem Haus gekommen waren. Josie trat in das Zelt. Sie stellte sich die Bänke voll fröhlicher Menschen vor. Das Orchester würde spielen. Sie nahm zwei von den Messern und schlug sie leicht gegeneinander. Ein Murmeln erhob sich, und sie schmunzelte in sich hinein. Jetzt würde die Musik verstummen, dachte sie – vielleicht ein Trommelwirbel, wenn sie sich ihrem Ziel zuwandte. Die Szenerie wurde lebendig: die erwartungsvolle Stille, die Wärme der zischenden Gaslampen. Josie war wieder auf der Bühne des Erato und zugleich hier im Zirkus; in ihrem Kopf vermischte sich beides auf seltsame Weise.
    Sie warf das erste Messer und sah zu, wie es auf die Korkwand zuwirbelte, bis es mit einem befriedigenden
Wump
darin landete. Sie warf das zweite hinterher, so dicht wie möglich neben das erste. Ihr imaginäres Publikum jubelte und klatschte. Josie verneigte sich und hielt zwei weitere Messer hoch. Sie waren wunderschön und perfekt ausbalanciert.
Wie für mich gemacht
, dachte sie.
    Wieder und wieder warf sie, vollkommen versunken in ihren Traum. Lorenzo rief ihren Namen, und die Gambinis turnten und sprangen um sie herum, während sie Luftballons zerplatzen ließ, auf fliegende Ziele warf und die Zuschauer mit ihrer Treffsicherheit zum Staunen brachte. Das trübe Licht des Morgens veränderte sich, und der Tag wurde älter.
    Ein Schatten im Zelteingang durchbrach ihre Träumereien. Alfie stand da, die Hände in den Taschen, die Schultern gegen die Kälte hochgezogen. Josie plagten Gewissensbisse. Sie hatte ihn vollkommen vergessen. Wie lange war sie schon hier im Zelt? Sie wusste es nicht. Alfie sah furchtbar aus – noch schlimmer als vorher, falls das überhaupt möglich war.
    »Was soll das werden?«, fragte er mürrisch. Die Ringe unter seinen Augen waren fast schwarz. »Bist du etwa schon den ganzen Tag hier?«
    »Ich übe«, erwiderte

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