Mortlock
ihr in die Hand schnitten. Paulo kam erneut auf sie zu. Seine Augen waren nur noch leere, schwarze Höhlen, sein Gesicht ein grinsender Totenschädel.
»Wir passen auf dich auf«, zischte er mit einer Stimme so trocken wie Winterlaub. Seine langen Knochenfinger griffen nach ihr. Mit einem Schrei wich sie zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings in die Tiefe …
Keuchend wachte sie auf, den Kopf auf Alfies Kissen. Er drehte sich mit einem Seufzen um. Josie setzte sich auf. Ihr Herz schlug wie wild.
Was für ein schrecklicher Traum
, dachte sie.
Und dabei so echt
. Es schüttelte sie, als sie an Paulos Gesicht und seine gruselige Stimme dachte. Mit einem Stöhnen reckte sie sich und stand auf. Alfie sah immer noch nicht besser aus; blass, zitternd und fiebrig lag er da und murmelte unruhig vor sich hin. Sie sah aus dem kleinen Fenster.
Die Nacht war vorbei.
Ich muss in einem Stück durchgeschlafen
haben
, dachte Josie und warf Alfie einen schuldbewussten Blick zu. Wieder ein grauer, nebliger Tag. Sie rieb sich die Augen und spürte erneut ein aufgeregtes Kribbeln im Magen. Eine Vorstellung. Heute Abend. Aber das schaurige Bild von Paulo, der mit seinen Skelettfingern nach ihr griff, ließ sie nicht los. Sie schüttelte sich, nahm die Messer und ging durch das feuchte Marschgras zum Zelt. Vielleicht konnte sie ein bisschen üben, das würde ihr sicher helfen, den Albtraum zu vergessen.
Der Tag verging wie im Flug. Selbstvergessen übte Josie das Werfen und Radschlagen, die Saltos und die Verbeugungen.
Madame Lilly ist hier aufgetreten
, dachte sie. Noch nie zuvor hatte sie sich ihrer Mutter so nah gefühlt. Sie stellte sich vor, wie die wunderschöne exotische Zigeunerin durch die Manege getanzt war und das Publikum mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten beeindruckt hatte. Madame Lilly wäre bestimmt sehr stolz auf ihre Tochter gewesen. Josie hielt inne.
Auf ihre Tochter und ihren Sohn
, korrigierte sie sich. Und da fiel es ihr plötzlich ein.
Ich habe überhaupt nicht mehr nach Alfie gesehen!
Von Panik ergriffen, rannte sie über den schlammigen Boden zum Wohnwagen und riss die Tür auf. Alfie schlief immer noch, mit tiefen, schnaufenden Atemzügen. Josie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und betupfte sein Gesicht mit dem nassen Lappen.
Er scheint sich auszuschlafen
, dachte sie.
Es schadet sicher nichts, wenn ich noch ein bisschen übe.
Die Dämmerung hatte eingesetzt, als Josie zum Zirkuszelt zurückging. Sie stutzte und ließ den Blick über die flache Landschaft gleiten. Etwas war anders. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet. In der Ferne konnte sie Rookery Heights erkennen, ein kleiner, dunkler Umriss auf demHügel, der von einer Rauchwolke umgeben war. Nein, es war kein Rauch – es waren Krähen, Tausende von Krähen, die in riesigen Schwärmen um das Haus kreisten.
Dann bemerkte sie eine weitere Bewegung, diesmal viel näher. Eine schwarze Gestalt stapfte durch die Marsch und stocherte mit einem langen Stock in den Wasserlöchern. Zwei weitere Gestalten folgten ihr.
»Die Tanten«, stieß Josie entsetzt aus. Sie suchten immer noch nach ihnen!
»Mach dir um die keine Sorgen, Herzchen«, sagte eine Stimme. Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Ulrico der Clown mit krummem Rücken, die Hände in den Taschen, und musterte sie mit seinen Schweinsäuglein. »Die lassen uns in Ruhe.«
»Was meinen Sie damit?«
»Die halten sich von uns fern, weil sie wissen, dass sie uns nichts tun können.« Er grinste spöttisch. »Die kommen nicht hierher.«
»Ich verstehe nicht … Ist es, weil wir so weit draußen sind?« Die Worte des Clowns verwirrten Josie. Sie fühlte sich unwohl, so ganz allein mit diesem großen Mann.
»Kann schon sein, Herzchen«, spottete er. »Aber vielleicht denken sie auch, wenn ihr hier bei uns seid, geht ihr sowieso nirgendwo mehr hin!« Ulrico brach in hämisches Gelächter aus.
Josie hielt sich die Ohren zu und lief zurück zum Wohnwagen. Die Worte »geht ihr nirgendwo mehr hin« hallten in ihrem Kopf wider. Warum hasste er sie so?
»Josie!« Ashenas kalte Hand griff nach ihrer und zog sie in den Wohnwagen der Gambinis. »Was ist los? Du siehst ganz durcheinander aus.«
»Oh, Ashena, es ist Ulrico – er hat gesagt, wir könnten nie wieder gehen«, schluchzte Josie. »Er ist schrecklich.«
»Ja, er ist kein netter Mann.« Ashenas Miene verdüsterte sich. Sie hielt Josies Hand fest und streichelte sie. Dann strahlte sie Josie wieder an. »Aber wir sind
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