Mortlock

»Er wollte Lilly wiederhaben, aber sie hatte ihre Liebe einem anderen geschenkt. Und dann erlag sie dem Fieber … Mortlock konnte nie akzeptieren, dass er sie verloren hatte. Er kam nach London, um ihren Geliebten zu töten – den Mann, dem er die Schuld an ihrem Tod gab … den Großen Cardamom.«
    »Cardamom und Madame Lilly?«, fragte Alfie verwirrt. »Aber Sie haben doch gesagt, sie hätte Mortlock geliebt.«
    »Ja, aber Mortlock hatte sie verlassen, und Cardamom hatte sie immer bewundert. Er behandelte sie mit Respekt, und mit der Zeit schloss sie ihn in ihr Herz. Es ist schwer zu erklären, aber die beiden verband eine stille, warme Zuneigung. Er wusste, dass sie Mortlock immer noch liebte, und betete, dass Mortlock nie wieder zurückkommen würde.«
    »Aber er kam zurück«, sagte Josie. Sie dachte an den Brief, in dem Cardamom als Dieb bezeichnet wurde. Nun begriff sie: Mortlock hatte damit gemeint, Cardamom hätte ihm Lilly weggenommen, ihre Mutter.
    »Die beiden Männer trafen sich in Gorsefields Yard«, murmelte Wiggins. »Mortlock hatte sogar schon ein Grab für seinen alten Freund ausgehoben, unter der alten Eibe. Cardamom hat mir erzählt, dass Mortlock anfing sich zu brüsten – er wollte ihm die Macht der Amarant zeigen, indem er die Toten aus ihren Gräbern holte.«
    »Und da hat Cardamom ihn getötet«, flüsterte Josie.»Aber nur um ihn daran zu hindern, etwas Schreckliches zu tun …«
    »Du bist ein loyales Kind«, sagte Wiggins mit traurigem Lächeln. Er zögerte. »Aber du irrst dich. Dein Vormund hat seinen Freund nicht getötet – er hat ihn lebendig begraben. Anscheinend kam es zum Kampf, und Cardamom packte eine Schaufel und schlug zu. Mortlock fiel in das Grab. Er war halb betäubt, aber Cardamom konnte nicht mehr aufhören und warf immer mehr Erde auf seinen alten Freund, bis dieser vollständig begraben war. Es muss ein Anfall von Wahnsinn gewesen sein,«
    »Nein«, fauchte Josie und stand auf. »Das ist nicht wahr. Sie lügen!«
    »Ich erzähle dir nur, was Cardamom mir erzählt hat«, erwiderte Wiggins seufzend. »Er tat, was er tun musste – er hinderte Mortlock daran, großes Unheil anzurichten –, aber die Schuldgefühle überschatteten sein ganzes Leben. Mortlocks Verschwinden blieb immer ein Rätsel. Es wurde nie richtig untersucht. Cardamom machte einen halbherzigen Versuch, die Polizei zu alarmieren, um den Schein zu wahren, aber die Sache interessierte niemanden. Die meisten waren froh, dass Mortlock verschwunden war.« Josie dachte an den Brief von der Polizei, den ihr Vormund aufbewahrt und mit dem er sich Abend um Abend gequält hatte. Wiggins fuhr fort: »Wenn ihr das Grab jetzt öffnet, wird es Fragen geben. Cardamoms guter Name wird durch den Schmutz gezogen, und sein Ruf wird für immer ruiniert. Deshalb dürft ihr nicht nach Gorsefields Yard.«
    Josie war fassungslos. Was für eine schreckliche Geschichte – und sie passte so gar nicht zu dem, was sie sonst über ihren Vormund wusste. Und wenn sie selbst schon nicht darandenken wollte, dass er so etwas getan hatte, wie sollte sie damit leben, wenn alle anderen es wussten? Sie dachte an das lächelnde Publikum im Erato, die Damen und Herren, die am Künstlereingang auf den Großen Cardamom gewartet hatten. Was würden sie dazu sagen? Er würde allen als kaltblütiger, brutaler Mörder im Gedächtnis bleiben.
    »Aber Cardamom wollte doch unbedingt in Gorsefields Yard begraben werden, Mr Wiggins«, sagte Alfie. »Er hat Josie den Brief gegeben. Er wollte, dass wir es herausfinden.«
    »Wer weiß, was Schuldgefühle auslösen können, Alfie.« Wiggins schob die Brille auf die Stirn und rieb sich die Augen. »Vielleicht meinte er, es wäre nur gerecht, am Schauplatz seines Verbrechens begraben zu werden.«
    »Cardamom hat ausdrücklich festgelegt, wo er begraben werden wollte, und er hat mir aufgetragen, die Amarant zu vernichten. Das waren seine letzten Worte.« Josie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Wiggins herausfordernd an. »Ich weiß, was er wollte, und ich werde es tun. Was ist mit dir, Alfie?«
    »Josie hat Recht, Mr Wiggins«, sagte Alfie. »Außerdem enden wir alle als lebende Tote, wenn Corvis sie in die Finger kriegt. Der gibt keine Ruhe, bis er sie hat!«
    »Ich kann das nicht zulassen, Kinder. Man soll keine schlafenden Hunde wecken. Mortlock liegt schon lange da unten, ohne dass es irgendwelchen Ärger gegeben hat. Wenn ihr jetzt anfangt, in den alten Geschichten zu wühlen, setzt ihr