Mortlock
sagte Jacob, ohne eine Miene zu verziehen. Er kaute weiter an seiner Pfeife, den Blick nach vorne gerichtet. Josie schüttelte den Kopf. Nein, bei ihm waren sie ganz bestimmt sicher. »Ich frag nicht weiter nach. Geht mich ja auch nichts an. Die Sachen kannst du behalten, Josie. Deine brauchen sicher noch ’ne Weile, bis sie trocken sind.«
Josie verbrachte den Morgen im Bug des Kahns, wo sie sich hinsetzte und in die Wellen schaute. Alfie gesellte sich zu ihr, und beide genossen die Schreie der Möwen, den Wind und das Spritzen der Gischt. Doch die Amarant ging ihnen nicht aus dem Kopf. Immer wieder machte einer von ihnen einen Vorschlag, der dann aber in einer Sackgasse oder in Ratlosigkeit endete.
»Mir brummt schon der Schädel«, murrte Alfie. »Wie ich gestern schon sagte: Je mehr wir rausfinden, desto wenigerwissen wir. Manchmal denke ich, das Ganze ist hoffnungslos …«
»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, Alfie«, sagte Josie. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Was hast du gesagt?« Alfie starrte sie an, als hätte er ein Gespenst gesehen.
»Ich habe gesagt, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, wiederholte Josie.
»Nein, davor.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast irgendwas von wegen Wille gesagt.«
»Kennst du das Sprichwort nicht? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Was ist denn los mit dir? Ist dir das Wasser ins Hirn gelaufen?«
»Nein, aber bei ›Wille‹ muss ich an ›Letzter Wille‹ denken.« Alfie stand auf. »Dieser komische Brief, den dein Onkel dir gegeben hat – der schwirrt mir schon seit Tagen im Kopf herum, wie eine Melodie, die man kennt, aber die einem nicht mehr einfallen will. Warum wollte er unbedingt in Gorsefields Yard begraben werden? Das ist doch der scheußlichste Ort, den man sich denken kann.«
»Vielleicht wollte er uns einen Hinweis geben«, sagte Josie. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. »Und die Art, wie der Brief geschrieben war … Du hast gesagt, es klingt wie ein Rätsel.« Plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Das ist es, Alfie! In dem Brief sind Hinweise versteckt. So muss es sein.«
»Aber was hast du damit gemacht?« Alfie ließ die Schultern hängen. »Nach dem Bad gestern ist er bestimmt völlig ruiniert.«
»Einen Teil davon weiß ich noch«, sagte Josie und trommelte mit den Fingern auf die Holzplanken. »Aber wir müssen ihn uns noch mal genau ansehen.« Dann fiel ihr wieder ein,wo sie ihn gelassen hatte, und ihr sank das Herz. »Er ist im Beerdigungsinstitut, im Einbalsamierungsraum. Zumindest war er da vor ein paar Tagen noch …«
Jacob rief Manny etwas zu, der daraufhin mit finsterer Miene an den Kindern vorbeieilte und sich an einem der Taue zu schaffen machte.
»Wir können nur hoffen, dass Wiggins ihn nicht weggeworfen hat«, brummte Alfie.
Allmählich kam London näher, und der Verkehr auf dem Fluss nahm zu. Manny sprang hierhin und dorthin, holte Segel ein und zurrte Planen fest. Die ganze Zeit über schwieg er, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
»Manny ist nicht sehr gesprächig«, sagte Jacob, als sein Gefährte an ihnen vorbeilief. »Spart sich seinen Atem für die wirklich wichtigen Sachen auf. An Land redet er so gut wie gar nicht. Überlegt sich sehr genau, was er sagt und zu wem.«
Die Frachtkähne mit den roten Segeln, größere Zwei- und Dreimaster, kleine Segel- und Ruderboote – alle glitten durcheinander, flussaufwärts und flussabwärts. Josie blickte nach unten und fragte sich, wann das Wasser wieder so schwarz und schmutzig geworden war. Sie sah zu, wie die wilden, grasbewachsenen Flussufer nach und nach von Kais und Docks abgelöst wurden, wo Männer geschäftig Schiffe be- und entluden. Jacob zeigte ihnen die kleineren Boote, die von den Kais ausliefen, um die Ladung von den großen, in der Mitte des Flusses verankerten Schiffen zu holen. Und dahinter breitete sich die Stadt aus, mit ihren Kuppeln und Kirchtürmen, ihren Lagerhäusern und Fabriken. Hier war die Luft geschwängert von Rauch und vom Gestank des Flusses. Jacob und Manny machten sich zum Anlegen bereit.
Josie und Alfie sahen zu, wie der Kahn sich dem Kainäherte. Kräftige Männer in Öljacken und dicken Pullovern standen bereit, um die ausgeworfenen Taue zu fangen. Mit einem leichten Stubser stieß das Boot gegen den Anleger. Laufbretter wurden heruntergelassen, und die Männer schwärmten hinunter in den Laderaum der
Galopede
.
»Wenn ihr wollt, könnt ihr noch ein paar Tage auf dem Boot bleiben«, sagte
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