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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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gelauscht, dann hatte Mum
gelacht, aber nicht fröhlich. Sie sei nicht von gestern, hatte sie gesagt, und
eins wisse sie mit Sicherheit, nämlich dass man Regierungen und Männern in
feinen Anzügen nicht trauen könne, und wenn einem die Kinder einmal weggenommen
würden, dann wisse Gott allein, wann man sie zurückbekam und in welcher
Verfassung, und dann hatte sie ein paar von den Wörtern geschrien, für die Rita
eine Ohrfeige bekam, wenn sie sie benutzte, und gesagt, wenn er sie liebe, würde
er ihre Kinder nicht fortschicken, und dann hatte Dad versucht, sie zu
beruhigen, und Mum hatte geschluchzt, und dann hatten sie noch weitergeredet,
aber Meredith hatte sich das Kissen über den Kopf gezogen, um Ritas Schnarchen
und alles andere nicht mehr hören zu müssen.
    Danach
hatte niemand mehr von Evakuierung gesprochen, jedenfalls ein paar Tage lang,
bis Rita eines Nachmittags nach Hause gerannt kam und berichtete, dass die
öffentlichen Schwimmbäder geschlossen worden waren und an den Eingängen neue,
große Plakate hingen. »Auf jeder Seite eins«, hatte sie gesagt, mit großen
Augen angesichts der unheilvollen Nachricht. »Auf dem einen steht >Kontaminierte
Frauen< und auf dem anderen >Kontaminierte Männer<.« Mum hatte die
Hände gerungen, und Dad hatte nur »Gas« gesagt, und damit war das Thema
erledigt gewesen. Am nächsten Tag hatte Mum den einzigen Koffer, den sie
besaßen, vom Dachboden geholt und alle Kopfkissenbezüge, die sie entbehren
konnten, dazu und hatte angefangen, alles einzupacken, was auf der Liste stand,
die sie in der Schule bekommen hatten - nur für alle Fälle: Unterhosen, einen
Kamm, Taschentücher und je ein nagelneues Nachthemd für Rita und Meredith, was
Dad ziemlich überflüssig fand, aber Mum hatte seine Bemerkung mit einem bösen
Blick quittiert. »Glaubst du etwa, ich lasse meine Kinder in Lumpen zu Fremden
ins Haus gehen?« Von da an hatte Dad nichts mehr gesagt, und obwohl Meredith
wusste, dass ihre Eltern bis Weihnachten brauchen würden, um die neuen Sachen
abzubezahlen, freute sie sich über das neue Nachthemd, das so frisch und weiß
war und das erste, das sie nicht von Rita erbte ...
    Und jetzt
wurden sie tatsächlich fortgeschickt, und Meredith würde alles darum geben,
dass sie ihren Wunsch zurücknehmen könnte. Meredith war nicht mutig, nicht so
wie Ed, und sie war auch nicht laut und selbstbewusst wie Rita. Sie war
schüchtern und unbeholfen und ganz anders als alle anderen in der Familie. Sie
setzte sich anders hin, stellte ihre Füße nebeneinander auf ihren Koffer und
betrachtete ihre blitzblanken Schuhe. Dann verscheuchte sie das Bild von Dad,
wie er die Schuhe am Abend zuvor gewienert und dann abgestellt hatte, wie er,
die Hände in den Hosentaschen vergraben, im Zimmer auf und ab gegangen war und
dann wieder von Neuem angefangen hatte, die Schuhe zu polieren. Als könnte er,
indem er Schuhcreme auftrug, sie tief in das Leder einrieb und es dann
polierte, bis es glänzte, irgendwie die unermesslichen Gefahren abwenden, die
vor ihnen lagen. »Mu-mmy! Mu-mmy!«
    Der Schrei
kam vom anderen Ende des Waggons, und als Meredith in die Richtung schaute, sah
sie einen kleinen Jungen, noch fast ein Baby, der sich an seine Schwester
klammerte und mit den Händen gegen die Fensterscheibe schlug. Seine Wangen
waren tränennass, und die Haut unter seiner Nase war gerötet. »Ich will bei
meiner Mummy bleiben!«, schrie er. »Ich will bei meiner Mummy bleiben!«
    Meredith
konzentrierte sich auf ihre Knie, rieb sich die rote Stelle, die ihre Gasmaske
hinterlassen hatte, als sie auf dem Weg von der Schule zum Bahnhof gegen ihr
Bein geschlenkert war. Dann schaute sie wieder aus dem Fenster, sie konnte
einfach nicht anders; schaute zu dem Geländer hoch, wo die Erwachsenen dicht
gedrängt standen. Er war immer noch da, konnte sich nicht losreißen, lächelte
immer noch das fremde Lächeln, das sein normales Dad-Gesicht verzerrte, und
plötzlich bekam Meredith kaum noch Luft, ihre Brille beschlug, und während sie
sich wünschte, die Erde würde sich auftun und sie verschlucken, damit das alles
vorbei wäre, blieb ein Teil von ihr ganz unberührt und überlegte, welche Worte
sie benutzen würde, falls man sie fragte, wie es sich anfühlte, wenn die Angst
ihr die Lunge einschnürte. Als Rita laut über etwas lachte, was ihre Freundin
gerade gesagt hatte, schloss Meredith die Augen.
     
    Es hatte
am vergangenen Vormittag genau um Viertel nach elf angefangen. Sie hatte mit
ihrem

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