Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
Vom Netzwerk:
ersten Mal
gehört habe.
    Ich wohne in einem richtigen Schloss, aber es sieht nicht so aus, wie man
sich eins vorstellt. Es gibt keine Zugbrücke, aber einen Turm und drei
Schwestern und einen alten Mann, den ich nie zu sehen kriege. Ich weiß nur,
dass er hier ist, weil die Schwestern über ihn reden. Sie nennen ihn Daddy, und
er ist Schriftsteller. Er schreibt richtige Bücher wie die in der Bücherei. Die
jüngste Schwester heißt Juniper, sie ist siebzehn und sehr hübsch und hat große
Augen. Sie hat mich nach Milderhurst mitgenommen. Wusstet Ihr übrigens, dass
die Beeren, aus denen Gin gemacht wird, Juniperbeeren heißen?
    Hier gibt es auch ein Telefon, wenn Ihr also Zeit habt und Mr. Waterman im
Laden nichts dagegen hat, könntet Ihr ...
     
    Ich hatte
die erste Seite zu Ende gelesen, aber ich drehte sie nicht um. Ich saß reglos
da, als würde ich nach etwas lauschen. Und ich glaube, das tat ich tatsächlich,
denn die Stimme des kleinen Mädchens war aus dem Schuhkarton herausgeweht und
hallte von den dunklen Wänden wider. Ich bin jetzt
auf dem Land ... Sie nennen ihn Daddy ...Es gibt einen Turm und drei Schwestern
... Briefe haben so etwas ganz Besonderes an sich. Ein
Gespräch verklingt mit dem letzten Wort, aber das geschriebene Wort überdauert.
Diese Briefe waren kleine Zeitreisende. Sie hatten fünfzig Jahre lang geduldig
in ihrer Schachtel gelegen und darauf gewartet, dass ich sie fand.
    Die
Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos warfen Lichtstreifen durch meine
Vorhänge, silberne Zacken huschten über die Zimmerdecke. Dann wurde es wieder
still und dunkel. Ich drehte die Seite um und las weiter, und während ich las,
entstand ein Druck in meiner Brust, als würde etwas Festes, Warmes von innen
gegen meine Rippen gedrückt. Das Gefühl war so ähnlich wie Erleichterung und
seltsamerweise zugleich wie das Stillen von einer Art Heimweh. Was überhaupt
keinen Sinn ergab, nur dass die Stimme des kleinen Mädchens so vertraut klang,
dass das Lesen der Briefe sich wie das Wiedersehen mit einer alten Freundin
anfühlte. Einer Freundin, die ich vor langer Zeit gekannt hatte ...
     
    1
     
    London, 4. September 1939
     
    Meredith
hatte ihren Vater noch nie weinen sehen. Das taten Väter nicht, vor allem ihrer
nicht (und er weinte auch nicht richtig, noch nicht, aber er war nahe dran),
und daher wusste sie, dass es nicht stimmte, was man ihnen erzählt hatte. Sie
gingen gar nicht auf eine Abenteuerfahrt, und es würde auch nicht bald vorbei
sein. Dieser Zug würde sie aus London fortbringen, und alles würde anders
werden. Als sie sah, wie Dads breite Schultern zitterten, wie sein kantiges Gesicht
sich so seltsam verzog, der Mund so fest zusammengekniffen, dass die Lippen
fast nicht mehr zu sehen waren, hätte sie am liebsten geschrien wie Mrs. Pauls
Baby, wenn es Hunger hatte. Aber sie tat es nicht, sie konnte nicht, solange
Rita neben ihr saß und nur auf einen weiteren Grund wartete, sie zu kneifen.
Sie hob nur eine Hand, und ihr Vater ebenso, dann tat sie so, als hätte jemand
sie gerufen, und drehte sich um, damit sie ihn nicht mehr ansehen musste und
sie beide aufhören konnten, so schrecklich tapfer zu sein.
    In der
Schule hatte es im Sommer Übungen gegeben, und Dad hatte abends immer wieder
erzählt, wie er als Junge mit seiner Familie nach Kent gefahren war, um bei der
Hopfenernte zu helfen, hatte geschwärmt, wie sonnig die Tage gewesen waren,
wie sie am Lagerfeuer gesungen hatten, wie schön es auf dem Land gewesen war,
so grün und duftend und endlos weit. Meredith hatte den Geschichten fasziniert
gelauscht, aber sie hatte auch hin und wieder einen verstohlenen Blick zu Mum
geworfen, und da hatte sich der Knoten in ihrem Bauch gebildet, eine böse
Vorahnung, die sie nicht mehr losgelassen hatte. Mum hatte an der Spüle
gestanden, dünn und knochig, und hatte die Töpfe und Pfannen mit einem
Feuereifer geschrubbt, wie sie es immer tat, wenn etwas Schlimmes bevorstand.
    Und wenige
Tage später hatte sie ihre Eltern zum ersten Mal streiten hören. Mum sagte,
dass sie eine Familie seien und zusammenbleiben und das gemeinsam durchstehen
müssten und dass eine Familie, die einmal auseinandergerissen würde, nie wieder
wie vorher sein würde. Dad hatte ihr ganz ruhig geantwortet, dass es stimmte,
was auf den Plakaten stand, dass Kinder auf dem Land sicherer seien, dass es
nicht für lange sei, und dann würden sie alle wieder zusammenkommen. Danach war
es still gewesen, und Meredith hatte angestrengt

Weitere Kostenlose Bücher