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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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mich
also nicht zu wundern brauchen, als sie mich, als ich zu Sams
Junggesellinnenabschied im Roxy Club eintraf, gleich an der Tür abfing. Rita
hakte sich bei mir ein und sagte: »Liebes, ich hab's schon gehört. Mach dir
keine Sorgen, denk jetzt bloß nicht, dass du alt und unattraktiv bist und dazu
verdammt, bis an dein Lebensende allein zu bleiben.«
    Ich rief
den Kellner, um mir was Hochprozentiges zu bestellen, und dachte beklommen,
dass ich meine Mutter tatsächlich um ihren Abend mit meinem Vater und seiner
Glocke beneidete.
    »Viele
lernen den Richtigen erst spät kennen«, fuhr Rita fort, »und werden mit ihm
glücklich. Sieh dir nur deine Kusine an.« Rita zeigte auf Sam, deren Gesicht
hinter dem Tanga eines braun gebrannten fremden Mannes auftauchte und mich angrinste.
»Irgendwann bist du auch an der Reihe.«
    »Danke,
Tante Rita.«
    »So«,
sagte sie, »und jetzt amüsier dich und vergiss das alles.« Sie wollte sich
schon ihr nächstes Opfer suchen, doch dann drehte sie sich noch einmal um und
packte mich am Arm. »Beinahe hätte ich's vergessen«, sagte sie. »Ich hab dir
was mitgebracht.« Sie kramte in ihrer Umhängetasche und brachte einen
Schuhkarton zum Vorschein. Auf der Seite war ein Paar bestickte Hausschuhe
abgebildet, wie sie meiner Großmutter gefallen hätten, und auch wenn ich mich
über ein solches Geschenk sehr wunderte, muss ich gestehen, dass sie durchaus
bequem aussahen. Und nicht einmal unpraktisch: Schließlich war ich jetzt
abends immer ziemlich lange auf den Beinen.
    »Danke«,
sagte ich. »Wie nett.« Als ich die Schachtel öffnete, stellte ich jedoch fest,
dass sie keine Hausschuhe, sondern Briefe enthielt.
    »Die
Briefe deiner Mutter«, sagte Rita mit einem diabolischen Lächeln. »Hatte ich
dir doch versprochen. Lies sie nur, das wird dich aufmuntern.«
    Eigentlich
freute ich mich über die Briefe, und dennoch empfand ich plötzlich eine tiefe
Abneigung gegen meine Tante Rita, als ich die kindlich verschnörkelte
Handschrift auf sauber gezogenen Linien auf den Umschlägen sah. Als ich an das
Mädchen dachte, dessen große Schwester es während der Evakuierung allein
gelassen hatte, weil sie zusammen mit ihrer Freundin untergebracht werden
wollte, sodass Meredith auf sich selbst gestellt war.
    Ich legte
den Deckel wieder auf den Karton, plötzlich bestrebt, die Briefe möglichst
schnell fortzuschaffen. Diese unausgegorenen Gedanken und Träume des kleinen
Mädchens, das in den Fluren von Schloss Milderhurst neben mir hergegangen war,
das ich so gern besser kennenlernen wollte, gehörten nicht in den ausgelassenen
Trubel dieses Clubs. Ich verabschiedete mich, als die Cocktails herumgereicht
wurden, und nahm die Briefe mit nach Hause.
     
    Es war
stockdunkel, als ich ankam, und ich schlich auf Zehenspitzen nach oben, um
unseren hauseigenen Glöckner nicht zu wecken. Meine Schreibtischlampe
verbreitete schwaches Licht, das Haus machte seltsame Nachtgeräusche, und ich
setzte mich mit dem Schuhkarton auf dem Schoß auf die Bettkante. Das war der
entscheidende Augenblick, denke ich, der Moment, der über alles Weitere
entschied. Vor mir gabelte sich ein Weg, und ich konnte den einen oder anderen
wählen. Nach kurzem Zögern hob ich den Deckel von der Schachtel und nahm die
Briefe heraus. Sofort fiel mir auf, dass sie nach Datum geordnet waren.
    Ein Foto
fiel mir auf die Knie, es zeigte zwei Mädchen, die in die Kamera lächelten. In
dem kleinen, dunkelhaarigen erkannte ich meine Mutter - ernste, braune Augen,
knochige Ellbogen, die Haare praktisch kurz geschnitten, wie meine Großmutter
es bevorzugte -, das andere, ältere mit dem langen, blonden Haar war natürlich
Juniper Blythe. Ich erkannte sie aus dem Buch, das ich mir in Milderhurst
gekauft hatte. Das Kind mit den leuchtenden Augen, das erwachsen geworden war.
Entschlossen legte ich das Foto und die Briefe zurück in den Karton, nur einen
Brief nahm ich heraus und faltete ihn auseinander. Das Papier war so dünn, dass
ich die feinen Narben, die die Füllfeder hinterlassen hatte, an den Daumen
spürte. Der Brief war datiert vom 6. September 1939, wie säuberlich in der oberen rechten Ecke vermerkt war.
     
    Liebe Mum, lieber Dad, stand da in großer, runder
Handschrift, Ihr fehlt mir beide sehr. Fehle ich
Euch auch? Ich bin jetzt auf dem Land, und hier ist alles ganz anders. Erstens
gibt es hier Kühe — wusstet Ihr, dass die tatsächlich »Muh« machen, und zwar
ganz laut? Ich habe mich furchtbar erschrocken, als ich das zum

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