Morton, Kate
ausmachte
...
»Hör bloß
auf damit«, sagte Rita. »Sei nicht so eine Heulsuse. Wenigstens erleben wir
mal was.«
»Meine Mum
sagt, man darf den Kopf nicht aus dem Fenster stecken, sonst wird er von einem
entgegenkommenden Zug abgerissen.« Das war Ritas Freundin Carol, sie war
vierzehn und genauso neunmalklug wie ihre Mutter. »Und man darf niemand, der
einen fragt, den Weg erklären. Das könnte nämlich ein deutscher Spion sein, der
nach Whitehall will. Die bringen auch Kinder um.«
Meredith
verbarg ihr Gesicht in den Händen, schluchzte noch ein bisschen und wischte
sich dann die Wangen ab, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ein Heidenlärm
brach los, Eltern riefen ihren Kindern zum Abschied etwas zu, die Kinder im
Zug riefen etwas zurück, es dampfte und zischte, Pfeifen schrillten, und Rita
neben ihr lachte, und dann fuhren sie aus dem Bahnhof hinaus. Ratterten und
rumpelten über die Gleise. Ein paar Jungs, die ihre Sonntagsanzüge trugen,
obwohl Montag war, liefen auf dem Gang von Fenster zu Fenster, schlugen gegen
die Scheiben, grölten und winkten, bis Mr. Cavill ihnen befahl, sich auf ihre
Plätze zu setzen und die Türen nicht zu öffnen. Meredith lehnte die Stirn gegen
das Fenster, aber anstatt die traurigen, grauen Gesichter am Straßenrand zu
sehen, die um die Stadt weinten, die ihre Kinder verlor, beobachtete sie
voller Staunen, wie große, silberne Ballons langsam aufstiegen und in der
leichten Brise über London trieben wie seltsame, schöne Lebewesen.
2
Dorf Milderhurst, 4. September 1939
D as Fahrrad hatte zwanzig Jahre lang im Stall allein dem Bau
von Spinnweben gedient, und Percy zweifelte nicht daran, dass sie im Dorf damit
für einiges Aufsehen sorgen würde. Die Haare mit einem Gummiband
zusammengehalten, den Rock zusammengerafft und zwischen die Knie gestopft. Ihre
Sittsamkeit würde die Fahrt problemlos überleben, aber sie gab sich nicht der
Illusion hin, dass sie eine elegante Figur machte.
Das
Kriegsministerium hatte davor gewarnt, Fahrräder in die Hände des Feindes
geraten zu lassen, aber sie hatte den alten Drahtesel trotzdem wieder
hervorgeholt. Wenn an den Gerüchten, die derzeit kursierten, etwas dran war
und die Regierung mit drei Kriegsjahren rechnete, dann würde über kurz oder
lang der Treibstoff rationiert werden, und sie brauchte nun mal einen fahrbaren
Untersatz. Das Fahrrad hatte früher einmal Saffy gehört, aber sie benutzte es
schon lange nicht mehr; Percy hatte es aus dem Stall geholt und geputzt und war
so lange damit vor dem Haus herumgefahren, bis sie sich einigermaßen sicher
fühlte. Sie hatte gar nicht damit gerechnet, dass ihr das Fahrradfahren so viel
Spaß machen würde, und sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, warum
sie sich damals nicht auch eins angeschafft hatte, warum sie dieses Vergnügen
erst entdeckt hatte, als sie eine Frau mittleren Alters war, die erste graue
Haare bekam. Und es war, vor allem in diesem herrlichen Altweibersommer,
wirklich ein Vergnügen, die Brise auf ihren erhitzten Wangen zu spüren, wenn
sie an den Hecken entlangradelte.
Percy
erreichte die Hügelkuppe und lächelte beglückt, als sie leicht vorgebeugt in
die nächste Senke hinunterrollte. Die ganze Landschaft leuchtete wie
vergoldet, Vögel zwitscherten in den Bäumen, die warme Luft flimmerte. Sie
genoss den September in Kent so sehr, dass sie sich fast hätte einbilden
können, sie hätte die gestrige Ankündigung nur geträumt. Sie nahm die Abkürzung
durch die Blackberry Lane, fuhr am See vorbei, sprang vom Fahrrad und schob es
über den schmalen Pfad, der am Bachufer entlangführte.
Das erste
Paar kam ihr entgegen, als sie den Tunnel erreichte, ein junger Mann und eine
junge Frau, nicht viel älter als Juniper, die Gasmasken über die Schulter
gehängt. Sie gingen Hand in Hand, in ein leises, ernstes Gespräch vertieft, die
Köpfe zusammengesteckt, sodass sie Percy kaum wahrnahmen.
Kurz
darauf tauchte ein zweites, ähnliches Paar auf, dann ein drittes. Percy nickte
dem letzten Pärchen zum Gruß zu und wünschte auf der Stelle, sie hätte es nicht
getan. Die junge Frau lächelte ihr schüchtern zu und schmiegte sich noch enger
an ihren Freund, und die beiden schauten einander so liebevoll und zärtlich
an, dass Percy errötete angesichts ihrer Taktlosigkeit. Die Blackberry Lane war
schon in Percys Jugend ein bevorzugtes Plätzchen für Liebespaare gewesen. Wer
wüsste das besser als sie. Sie war selbst einmal verliebt
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