Morton, Kate
kannst?«
»Mein
Notizbuch.«
Da lachte
er, denn er hatte es ihr geschenkt, als Belohnung dafür, dass sie bei den
Prüfungen so gut abgeschnitten hatte. »Natürlich«, sagte er. »Genau das
Richtige. Schreib schön alles auf. Alles, was du siehst und denkst und
empfindest. Deine Stimme gehört dir, sie ist wichtig.« Er gab ihr einen
Schokoriegel und zwinkerte ihr zu, und sie lächelte, als sie ihm nachschaute,
wie er weiter den Gang entlangging, und ihr das Herz anschwoll, bis es fast
zersprang.
Das
Notizbuch war Merediths kostbarster Besitz. Das erste richtige Tagebuch, das
sie je besessen hatte. Sie hatte es jetzt schon seit zwölf Monaten, aber sie
hatte noch kein einziges Wort hineingeschrieben, nicht einmal ihren Namen. Wie
sollte sie auch? Meredith liebte das hübsche kleine Buch so sehr, den glatten
Ledereinband, die perfekten Linien auf den Seiten, das in den Rücken
eingearbeitete Bändchen, das als Lesezeichen diente, dass es ihr wie ein
Sakrileg vorkommen würde, wenn sie es mit ihrem Geschreibsel, ihren
langweiligen Geschichten über ihr langweiliges Leben entweihte. Sie hatte es
schon oft aus seinem Versteck genommen, es eine Weile in den Händen gehalten
und es genossen, etwas so Schönes ihr Eigen zu nennen, und es dann wieder
weggepackt.
Mr. Cavill
hatte versucht, sie davon zu überzeugen, dass das, was sie schrieb, lange nicht
so wichtig war wie die Art und Weise, wie sie es
schrieb. »Keine zwei Menschen werden jemals dasselbe wahrnehmen oder
empfinden, Merry. Es kommt darauf an, wahrhaftig zu sein, wenn du schreibst.
Gib dich nicht mit einem Ungefähr zufrieden.
Wähle nicht die einfachsten Sätze, die dir in den Sinn kommen. Such nach den
Worten, die genau das
ausdrücken, was du denkst. Was du empfindest.« Und dann hatte er sie gefragt,
ob sie verstanden habe, was er meinte, und dabei hatte er sie mit seinen
dunklen, durchdringenden Augen angesehen, und sie hatte gespürt, wie sehr er
sich wünschte, dass sie die Dinge so sah, wie er es tat. Da hatte sie genickt,
und einen Augenblick lang war es gewesen, als hätte sich eine Tür zu einer Welt
geöffnet, die ganz anders war als die, in der sie lebte ...
Meredith
seufzte und riskierte einen Blick zu Rita hinüber, die sich mit den Fingern
durch den Pony fuhr und so tat, als bekäme sie nicht mit, wie Billy Harris sie
von seinem Platz auf der anderen Seite aus anhimmelte. Sehr gut. Dass Rita
mitbekam, was sie für Mr. Cavill empfand, war das Letzte, was sie gebrauchen
konnte, aber für Rita drehte sich alles so sehr um Jungs und Lippenstift, dass
sie sich für nichts anderes mehr interessierte. Und Meredith hoffte, dass das
so blieb, damit sie in Ruhe ihr Tagebuch führen konnte. (Natürlich würde sie
nicht ihr kostbares Buch benutzen. Für diesen Zweck hatte sie alle möglichen
losen Blätter gesammelt, die sie zusammengefaltet vorne in ihrem wertvollen
Buch aufbewahrte. Auf diesen Blättern schrieb sie ihre Berichte und sagte sich,
dass sie sich vielleicht eines Tages trauen würde, das echte Tagebuch
einzuweihen.)
Dann
riskierte Meredith noch einen Blick nach draußen zu ihrem Dad, bereit, schnell
genug wegsehen zu können, falls er gerade zu ihr herüberschaute, aber als sie
die Menge nach seinem vertrauten Gesicht absuchte, anfangs flüchtig, dann mit
wachsender Panik, stellte sie fest, dass er nicht mehr da war. Die Gesichter
hatten sich verändert, die Mütter weinten immer noch, manche winkten mit
Taschentüchern, andere bemühten sich, tapfer zu lächeln, aber von ihm war keine
Spur zu entdecken. Wo er gestanden hatte, war jetzt eine Lücke, die gerade von
jemand anderem eingenommen wurde, und nachdem sie noch eine Weile nach ihm
Ausschau gehalten hatte, wurde ihr klar, dass er tatsächlich gegangen war. Ohne
dass sie es mitbekommen hatte.
Den ganzen
Vormittag über hatte sie sich zusammengenommen, hatte gegen die Traurigkeit
angekämpft, aber auf einmal fühlte sie sich so elend, so klein und verängstigt,
dass sie anfing zu weinen. Sie wurde von Gefühlen überwältigt, und Tränen
liefen ihr über die Wangen. Was für ein schrecklicher Gedanke, dass er
womöglich die ganze Zeit dort gestanden hatte, dass er gesehen hatte, wie sie
ihre Schuhe bewunderte, wie sie mit Mr. Cavill redete, über ihr Tagebuch
nachdachte, dass er sich gewünscht hatte, sie möge zu ihm hochschauen,
lächeln, zum Abschied winken, dass er es irgendwann aufgegeben hatte und nach
Hause gegangen war in der Überzeugung, dass ihr das alles gar nichts
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