Morton, Kate
- das Flüstern einer Sommerbrise, die Verheißung von
Sonnenlicht an einer kahlen Wand — Mummy ... Er war
sich nicht einmal mehr sicher, ob er sich noch an ihre Stimme erinnern konnte.
Jetzt
gehörte das Zimmer ihm, Raymond Blythe, dem Herrn über Schloss Milderhurst. Er
war der erstgeborene Sohn seiner Mutter, ihr Erbe und neben ihren Gedichten ihr
bedeutendstes Vermächtnis. Ein eigenständiger Schriftsteller, dem Respekt
entgegengebracht wurde und der - das war nichts als die Wahrheit, konterte er,
als sich die Stimme der Bescheidenheit meldete — einen gewissen Ruhm erworben
hatte, genau wie seine Mutter vor ihm. Hatte sie, als sie ihm das Schloss und
ihre Leidenschaft für das geschriebene Wort vererbt hatte, geahnt, fragte er
sich oft, dass er ihre Erwartungen erfüllen würde? Dass er eines Tages seinen
Teil dazu beitragen würde, seine Familie in literarischen Zirkeln berühmt zu
machen?
Raymond
fasste sich an sein lädiertes Knie, das plötzlich schmerzte, und streckte das
Bein, bis die Spannung nachließ. Er humpelte ans Fenster, lehnte sich gegen den
Sims, während er ein Streichholz anriss. Der Tag war beinahe perfekt. Während
er an seiner Pfeife zog, um den Tabak zum Glühen zu bringen, ließ er den Blick
mit zusammengekniffenen Augen über die Felder, die Einfahrt, den Rasen, den
Cardarker-Wald wandern. Über das große, verwilderte Milderhurst, das ihn aus
London hergerufen hatte, dessen Ruf ihn selbst auf den französischen
Schlachtfeldern erreicht hatte, das schon immer seinen Namen gekannt hatte.
Was würde
aus Milderhurst werden, wenn er einmal nicht mehr da war? Raymond wusste, dass
sein Arzt die Wahrheit sagte; er war nicht dumm, nur alt. Und doch konnte er
einfach nicht glauben, dass eine Zeit kommen würde, in der er nicht länger an
diesem Fenster sitzen und auf seine Ländereien schauen würde, Herr über alles,
was das Auge erblickte. Dass der Name der Familie Blythe, das Vermächtnis der
Familie Blythe mit ihm sterben würde. Raymonds Gedanken stockten. Es wäre seine
Pflicht gewesen, das zu verhindern. Vielleicht hätte er noch einmal heiraten
sollen, eine Frau finden, die ihm womöglich einen Sohn geschenkt hätte. Die
Frage des Erbes beschäftigte ihn in letzter Zeit mehr denn je.
Raymond
zog an seiner Pfeife und paffte mit abschätziger Miene, wie er es vielleicht in
Gegenwart eines alten Freundes tun würde, dessen Angewohnheiten allmählich
lästig wurden. Er neigte dazu, melodramatisch zu werden, er war ein sentimentaler
alter Narr. Ob sich wohl jeder Mann einbildete, die Welt würde ohne ihn
zugrunde gehen? Zumindest jeder Mann, der so stolz war wie er. Er sollte sich
mehr in Bescheidenheit üben, dachte Raymond, Hochmut kam vor dem Fall, so stand
es schon in der Bibel. Außerdem brauchte er gar keinen Sohn: Er hatte
Nachkommen genug zur Auswahl, drei Töchter, von denen keine das Zeug zur
Ehefrau hatte. Und dann war da noch die Kirche, seine neue Kirche. Sein
Priester hatte ihm erst kürzlich von der himmlischen Belohnung erzählt, die
Männer wie ihn erwartete, die ihre katholischen Brüder so großzügig bedachten.
Der schlaue Pater Andrews wusste, dass Raymond es bitter nötig hatte, sich um
himmlischen Beistand zu bemühen.
Er zog an
der Pfeife und behielt den Rauch einen Moment im Mund. Pater Andrews hatte ihm
den Grund für seine Heimsuchungen erklärt und was er tun musste, um seinen
Dämon zu exorzieren. Er wusste jetzt, dass er für seine Sünden bestraft wurde.
Keine Reue, keine Beichte, nicht einmal die Selbstgeißelung hatten
ausgereicht; Raymonds Verbrechen war zu groß.
Aber
konnte er sein Schloss wirklich in die Hände von Fremden übergeben, nur um den
verfluchten Dämon zu töten? Was würde aus den flüsternden Stimmen werden, aus
den fernen Stunden, die in diesem Gemäuer gefangen waren? Es war der innige
Wunsch seiner Mutter: Das Schloss muss in der Familie bleiben. Würde er es
wirklich übers Herz bringen, sie zu enttäuschen? Noch dazu, wo er eine so
fähige Nachfolgerin hatte, Persephone, die älteste und zuverlässigste seiner
drei Töchter. Er hatte sie am Morgen mit dem Fahrrad davonfahren sehen, hatte
beobachtet, wie sie an der Brücke angehalten hatte, um die Fundamente zu
überprüfen, so, wie er es ihr vor langer Zeit beigebracht hatte. Sie war die
einzige von den dreien, deren Liebe zum Schloss annähernd so groß war wie die
seine. Ein Segen, dass sie nie einen Ehemann gefunden hatte und jetzt auch wohl
keinen mehr finden würde. Sie
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