Morton, Kate
winkten ihnen zu. Plötzlich kniff
Rita sie in den Arm, dass sie aufschrie: »Was soll das?« Sie rieb sich die
schmerzende Stelle.
»Sieh mal,
die netten Leute da draußen, die wollen was geboten kriegen«, sagte Rita mit
einer Kopfbewegung in Richtung Fenster. »Sei keine Spielverderberin, Merry,
heul ihnen ein bisschen was vor.«
Schließlich
ließen sie die Stadt hinter sich und fuhren durch grüne Landschaften. Der Zug
ratterte über die Schienen, verlangsamte hin und wieder das Tempo, wenn sie
einen Bahnhof passierten, aber alle Schilder waren abmontiert worden, sodass
sie keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden. Meredith musste eingenickt
sein, denn plötzlich wurde sie aus dem Schlaf gerissen, als der Zug
quietschend zum Stehen kam. Es gab nichts zu sehen, nur Wiesen und bewaldete
Hügel am Horizont und hin und wieder ein paar Vögel, die über den blauen Himmel
flogen. Einen glückseligen Augenblick lang dachte Meredith, sie würden umkehren
und wieder nach Hause fahren. Vielleicht hatte Deutschland ja eingesehen, dass
England nicht mit sich spaßen ließ, vielleicht war der Krieg ja schon vorbei,
und sie brauchten nicht mehr aufs Land zu fahren.
Aber es
sollte nicht sein. Nachdem sie ziemlich lange gewartet hatten und Roy Stanley,
der eine ganze Dose Ananas geleert hatte, schon wieder aus dem Fenster gekotzt
hatte, befahl man ihnen, aus dem Zug zu steigen und sich in Reihen
aufzustellen. Sie bekamen alle eine Spritze, ihre Haare wurden auf Läuse untersucht,
dann mussten sie wieder einsteigen, und weiter ging die Fahrt. Sie hatten nicht
einmal Gelegenheit bekommen, zur Toilette zu gehen.
Danach war
es still im Zug, selbst die ganz Kleinen waren zu erschöpft zum Weinen. Sie
fuhren und fuhren, stundenlang, so schien es Meredith, und sie begann sich zu
fragen, wie groß England eigentlich war und ob sie jemals eine Küste erreichen
würden. Womöglich, dachte sie, waren sie einem Riesenkomplott zum Opfer
gefallen, womöglich war der Lokomotivführer ein Deutscher, der sich mit
Englands Kindern aus dem Staub machte. Die Theorie war zwar nicht ganz logisch
- was sollte Hitler denn mit Tausenden neuen Bürgern anfangen, die wahrscheinlich
noch alle ins Bett machten? -, aber Meredith war inzwischen zu müde, zu durstig
und zu unglücklich, um noch logisch denken zu können. Sie kniff die Schenkel
noch fester zusammen und zählte stattdessen die Felder. Felder und Felder und
Felder, und Gott allein wusste, wo man sie hinbrachte und was sie dort
erwartete.
Jedes Haus
hat ein Herz, ein Herz, das geliebt hat, ein Herz, das in Zufriedenheit
geschwelgt hat, ein Herz, das gebrochen wurde. Das Herz von Schloss Milderhurst
war größer als die meisten, und es schlug kräftiger. Es pochte und stockte,
raste und beruhigte sich in dem kleinen Zimmer hoch oben im Turm. Das Zimmer,
in dem Raymond Blythes Ururururgroßvater über seinen Sonetten für Königin
Elizabeth geschwitzt hatte, aus dem eine Großtante geflohen war, um sich mit
Lord Byron zu vergnügen, und auf dessen steinernem Sims ein Schuh von Raymond
Blythes Mutter zurückgeblieben war, als sie sich aus dem schmalen Fenster in
den von der Sonne erwärmten Schlossgraben gestürzt hatte, während ihr letztes
Gedicht auf einem handgeschöpften Blatt Papier hinter ihr her flatterte.
Raymond
Blythe stand an seinem mächtigen Eichenschreibtisch und stopfte seine Pfeife.
Nach dem Tod seines jüngsten Bruders Timothy hatte seine Mutter sich in dieses
Zimmer zurückgezogen und sich ihrer Trauer hingegeben. Hin und wieder hatte er
sie am Fenster gesehen. Von der Grotte oder vom Lustgarten oder vom Waldrand
aus hatte er ihren kleinen Kopf ausmachen können, wenn sie am Fenster saß und
auf die Felder, auf den See hinaus schaute, ihr elfenbeinfarbenes Profil - wie
auf der Brosche, die sie immer trug, ein Erbstück ihrer Mutter, der
französischen Gräfin, die Raymond nie kennengelernt hatte. Manchmal war er den
ganzen Tag draußen geblieben, war zwischen den Hopfenpflanzen hin und her
gesprungen, aufs Scheunendach geklettert in der Hoffnung, sie möge ihn bemerken,
sich Sorgen um ihn machen, ihn ausschelten. Aber das tat sie nie. Die
Kinderfrau hatte ihn jedes Mal ins Haus gerufen, sobald es Abend wurde.
Aber das
war lange her und er ein närrischer alter Mann geworden, der sich in seinen
verblassenden Erinnerungen verirrte. Seine Mutter war nur mehr eine einstmals
verehrte Dichterin, um die sich Legenden zu ranken begannen, wie das Legenden
so an sich hatten
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