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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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gehörte zum Inventar des Schlosses und damit
ihm, Raymond Blythe, so wie die Statuen in der Eibenhecke ihm gehörten. Man
konnte sich darauf verlassen, dass sie Milderhurst niemals Unrecht tun würde.
Sie war wie er, und Raymond vermutete, dass sie einen Mann mit bloßen Händen
erwürgen würde, falls er es wagen sollte, auch nur einen Stein aus dem Schloss
zu entfernen.
    Er hörte
das Geräusch eines Motors. Ein Automobil, irgendwo unterhalb des Fensters. Im
nächsten Moment erstarb das Geräusch, und er hörte, wie eine Tür zugeschlagen
wurde, schwer, metallisch. Raymond reckte den Hals, um über den steinernen Sims
sehen zu können. Es war der große, alte Daimler, jemand hatte ihn aus der
Garage geholt und bis zur Einfahrt gefahren und dort geparkt. Etwas
Gespenstisches bewegte sich, eine bleiche Elfe - seine Jüngste, Juniper, sprang
von den Stufen vor dem Haus und lief zur Fahrertür. Raymond lächelte in sich
hinein, amüsiert und erfreut. Sie war eine Streunerin, kein Zweifel, aber was
dieses hagere, wilde Geschöpf mit sechsundzwanzig simplen Buchstaben
zustandebrachte, die Worte, die Sätze, die dieses Kind bildete, das war
atemberaubend. Wäre er jünger, er hätte allen Grund, eifersüchtig zu sein ...
    Noch ein
Geräusch. Näher. Im Haus.
    Schsch ...
Hörst du ihn?
    Raymond
erstarrte. Und lauschte.
    Die Bäume hören
ihn. Sie wissen als Erste, dass er kommt.
    Schritte
auf dem Treppenabsatz. Sie stiegen höher und höher, näherten sich ihm. Er
legte seine Pfeife auf dem glatten Stein ab. Sein Herz raste.
    Horch! Im tiefen, dunklen Wald erzittern die Bäume, ihre Blätter rascheln
wie Silberfolie, ein verstohlener Wind geistert und schlängelt sich glitzernd
durch ihre Kronen und flüstert, dass es bald anfangen wird.
    Er atmete
so ruhig aus, wie er konnte. Es war so weit. Der Modermann war endlich
gekommen, um Rache zu nehmen. Raymond hatte es die ganze Zeit gewusst.
    Er konnte
nicht aus dem Zimmer entkommen, nicht, solange der Dämon sich auf der Treppe
befand. Der einzige andere Fluchtweg war das Fenster. Raymond warf einen Blick
über den Sims. Hinunter in die Tiefe, wie ein Pfeil, wie seine Mutter es getan
hatte.
    »Mr.
Blythe?« Eine Stimme wehte von der Treppe hoch. Raymond wappnete sich. Der
Modermann war klug, er kannte viele Tricks. Raymonds Haut kribbelte am ganzen
Körper. Er lauschte angestrengt über seinen eigenen keuchenden Atem.
    »Mr.
Blythe?« Der Dämon rief ihn noch einmal, er war näher gekommen. Raymond duckte
sich hinter den Sessel. Kauerte sich zitternd in den Schatten. Ein Feigling
bis zuletzt. Die Schritte näherten sich unaufhaltsam. An der Tür. Auf dem Teppich.
Näher, näher. Er kniff die Augen zu, schlang die Arme schützend über den Kopf.
Es war direkt über ihm.
    »Ach,
Raymond, Sie Ärmster. Kommen Sie, geben Sie Lucy die Hand. Ich habe Ihnen eine
leckere Suppe gebracht.«
     
    Am
Dorfrand, zu beiden Seiten der High Street, standen die Pappeln wie müde
Soldaten aus einer anderen Zeit. Sie trugen wieder Uniform, stellte Percy fest,
als sie an ihnen vorbeiflitzte, frische weiße Farbstreifen leuchteten an ihren
Stämmen. Auch die Bordsteinkanten waren frisch bemalt worden und sogar die
Felgen vieler Autoreifen. Nach langem Hin und Her war am Abend zuvor die
Verdunkelungsverordnung in Kraft getreten: Eine halbe Stunde nach
Sonnenuntergang waren alle Straßenlaternen ausgegangen, es durften keine
Autoscheinwerfer eingeschaltet werden, und alle Fenster mussten mit schwerem
schwarzen Stoff verhängt werden. Nachdem Percy nach ihrem Vater gesehen hatte,
war sie in den Turm gestiegen und hatte übet das Dorf hinweg in Richtung der
Küste geschaut. Der Mond war die einzige Lichtquelle gewesen, und Percy hatte
sich mit Schaudern vorgestellt, wie es in früheren Jahrhunderten gewesen sein
musste, als es noch viel dunkler in der Welt gewesen war, als Ritter mit ihren
Heeren das Land durchzogen, Pferdehufe über den harten Boden trommelten, als
Soldaten an Schlosstoren Wache gestanden hatten ...
    Sie musste
plötzlich ausweichen, als ihr Mr. Donaldson in seinem Wagen entgegenkam. Er
schien direkt auf sie zuzufahren, die Hände ans Steuerrad geklammert, die
Ellbogen seitlich ausgestreckt, während er mit zusammengekniffenen Augen durch
seine Brille auf die Straße starrte. Seine Miene erhellte sich, als er sie
erkannte, er hob eine Hand und winkte zum Gruß, wodurch er seinen Wagen noch
dichter an den Straßenrand manövrierte. Percy, die sich auf dem Grünstreifen
in Sicherheit

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