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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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gebracht hatte, winkte zurück und schaute ihm besorgt nach, als
er in Schlangenlinien weiter zum Bell Cottage fuhr, wo er wohnte. Wie würde er
erst fahren, wenn es dunkel wurde. Sie seufzte. Zum Teufel mit den Bomben. Es
war die Dunkelheit, denen die Leute hier zum Opfer fallen würden.
     
    Einem
Durchreisenden, der nichts von der Verdunkelungsverordnung wusste, wäre im
Dorf Milderhurst wohl keine Veränderung aufgefallen. Die Leute gingen nach wie
vor ihren Ges chäften nach, kauften Lebensmittel ein, standen plaudernd
vor der Post, aber Percy wusste es besser. Es sprang einem nicht ins Auge,
es gab kein Heulen und Zähneknirschen, nein, die Veränderung war viel subtiler
und vielleicht deshalb umso trauriger. Der bevorstehende Krieg zeigte sich im
abwesenden Blick der alten Leute, in ihren Gesichtern, die nicht von Angst,
sondern von Trauer überschattet waren. Denn sie wussten, was es bedeutete, sie
hatten den letzten Krieg erlebt und erinnerten sich an die vielen jungen
Männer, die so bereitwillig losmarschiert und nie wieder zurückgekehrt waren.
Und an jene, die es, wie Percys Vater, geschafft hatten, die zurückgekehrt
waren, jedoch einen Teil ihrer selbst für immer in Frankreich zurückgelassen
hatten. Die immer wieder Momente durchlebten, in denen ihr Blick sich trübte,
ihre Lippen jede Farbe verloren und sich vor ihrem geistigen Auge Szenen
abspielten, über die sie nicht sprechen und die sie nicht abschütteln konnten.
    Percy und
Saffy hatten am Abend zuvor vor dem Radio gesessen, als Premierminister
Chamberlain die Verordnung verlas, und dann hatten sie nachdenklich der
Nationalhymne gelauscht.
    »Jetzt werden wir es ihm wohl
sagen müssen«, bemerkte Saffy schließlich. »Ich schätze ja.« »Das übernimmst
aber du.« »Natürlich.«
    »Sieh zu,
dass du den richtigen Moment erwischst. Du musst es ihm schonend beibringen,
damit er nicht verrücktspielt.«
    Wochenlang
hatten sie es vor sich hergeschoben, ihren Vater darüber in Kenntnis zu setzen,
dass mit Krieg zu rechnen war. Sein erneutes Abdriften in wirre
Wahnvorstellungen hatte ihn noch weiter von der Realität entfernt. Er schwankte
zwischen Extremen wie das Pendel der Standuhr. Mal war er klar bei Verstand,
führte ein vernünftiges Gespräch mit Percy über das Schloss, über Geschichte
und über Literatur, und im nächsten Moment versteckte er sich hinter Sesseln
und weinte aus Angst vor Gespenstern. Oder er schlug ihr schüchtern vor - und
kicherte dabei wie ein Schuljunge —, mit ihm zum Bach, zum Paddeln, zu gehen,
und sagte, er kenne die beste Stelle, um Froschlaich zu sammeln, und er werde
sie ihr zeigen, wenn sie ein Geheimnis für sich behalten könne.
    Als Percy
und Saffy acht Jahre alt waren, im Sommer vor dem Ersten Weltkrieg, hatten sie
zusammen mit ihrem Vater an einer Übersetzung von Sir Gawain and the Green Knight gearbeitet. Wenn ihr Vater ihnen
die mittelenglischen Verse vorlas, hatte Percy die Augen geschlossen und die
magischen Klänge, das alte Flüstern, das sie umgab, in sich aufgenommen.
    »Sumwhyle wyth wormes he werres I And etaynes that hym anelede«, sagte der
Vater. »Er hörte die Riesen atmen, Persephone. Weißt du, wie sich das anfühlt?
Hast du schon mal die Stimmen deiner Vorfahren gehört, die im Gemäuer ächzen?«
Und dann hatte sie genickt und sich noch enger an ihn gekuschelt und die Augen
zugemacht, während er weitererzählte ...
    Damals war
alles noch so einfach gewesen - die Liebe zu ihrem Vater war einfach gewesen.
Er war ein Riese von über zwei Metern, ein Mann wie aus Stahl, und sie hätte
alles getan, um seine Anerkennung zu gewinnen. Aber seitdem war so vieles
geschehen. Zu erleben, wie sein altes Gesicht den begeisterten Ausdruck eines
kleinen Jungen annahm, war beinahe unerträglich. Sie würde es niemandem
eingestehen, am allerwenigsten Saffy, aber Percy konnte es einfach nicht
aushalten, wenn der Vater in einer seiner »regressiven Phasen« war, wie der
Arzt es nannte. Das Problem war die Vergangenheit. Sie ließ ihr keine Ruhe.
Ihre Nostalgie lähmte sie, und das war absurd, denn Percy Blythe hatte
überhaupt nichts übrig für Sentimentalität.
    Von
unliebsamer Trübsal erfasst, schob sie ihr Fahrrad das letzte kurze Stück zum
Versammlungsraum der Kirche und lehnte es gegen den Holzzaun, sorgsam darauf
bedacht, das Blumenbeet des Vikars nicht zu zertrampeln.
    »Guten
Morgen, Miss Blythe.«
    Percy
lächelte Mrs. Collins an. Die nette Frau, die aus unerklärlichen
Gründen bereits seit

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