Morton, Kate
Mal las, war ich zehn
Jahre alt und lag krank im Bett. Ich glaube, ich hatte Mumps - eine von diesen
Kinderkrankheiten, die einen für Wochen ans Bett fesseln, und ich muss ziemlich
quengelig gewesen sein, denn das mitfühlende Lächeln meiner Mutter war immer
verkniffener geworden. Eines Nachmittags, als sie sich eine kurze Atempause auf
der High Street gegönnt hatte, kam sie mit frischem Optimismus zurück und
drückte mir ein zerlesenes Buch aus der Bücherei in die Hand.
»Vielleicht
muntert dich das ein bisschen auf«, sagte sie vorsichtig. »Es ist eigentlich
für etwas ältere Kinder, aber du bist ja ein kluges Mädchen, und wenn du dir
Mühe gibst, wirst du es schon verstehen. Es ist zwar dicker als die Bücher, die
du sonst liest, aber versuch mal, es zu Ende zu lesen.«
Wahrscheinlich
habe ich, anstatt ihr zu antworten, nur voller Selbstmitleid gehustet, ahnte
ich doch nicht, dass ich kurz davorstand, eine Schwelle in eine Welt zu
überschreiten, aus der es kein Zurück geben würde, dass ich etwas in den Händen
hielt, dessen bescheidenes Erscheinungsbild seine Macht Lügen strafte. Jeder
wahre Leser hat ein Buch, hat einen Moment wie den erlebt, wie ich ihn hier
beschreibe, und als meine Mutter mir das Buch aus der Bücherei mitbrachte, war
mein entscheidender Moment gekommen. Damals wusste ich es noch nicht, aber
nachdem ich tief in die Welt vom Modermann eingetaucht
war, konnte die Wirklichkeit nie wieder mit der Welt der Romane konkurrieren.
Seitdem bin ich Miss Perry unendlich dankbar, denn als sie diesen Roman über
den Tresen schob und meiner gestressten Mutter zuredete, ihn mir zum Lesen zu
geben, hatte sie mich entweder mit einem viel älteren Mädchen verwechselt,
oder sie hatte tief in meine Seele geschaut und dort ein Vakuum entdeckt, das
gefüllt werden musste. Ich gehe von Letzterem aus. Schließlich besteht die
eigentliche Aufgabe einer Bibliothekarin darin, ein Buch mit seinem wahren
Leser zusammenzubringen.
Ich schlug
das vergilbte Buch auf, und vom ersten Absatz an, in dem beschrieben wird, wie
der Modermann in dem tiefen, dunklen Schlossgraben aufwacht, von dem
furchtbaren Moment an, in dem sein Herz zu schlagen beginnt, ließ es mich nicht
mehr los. Mein Herz klopfte, ich bekam eine Gänsehaut, meine Finger zitterten
in Erwartung, Seite um Seite umblättern zu dürfen, die schon voller Eselsohren
waren von den zahllosen Lesern, die die Reise vor mir angetreten hatten. Ich
besuchte prächtige und furchterregende Orte, ohne das mit Papiertaschentüchern
übersäte Sofa im Reihenhaus meiner Eltern jemals zu verlassen. Der Modermann hielt mich tagelang gefangen, meine Mutter begann
wieder zu lächeln, mein geschwollenes Gesicht sah wieder normal aus, und mein
neues Ich war geboren.
Noch
einmal fiel mein Blick auf das handgeschriebene Schild -»Heimatgeschichten« —,
und ich sagte zu der strahlenden Verkäuferin: »Raymond Blythe war also hier
aus der Gegend?«
»Aber ja.«
Sie schob sich feine Haarsträhnen hinter die Ohren. »Er hat oben in Schloss
Milderhurst gelebt und geschrieben, und er ist auch dort gestorben. Das ist
das prächtige Anwesen ein paar Kilometer außerhalb des Dorfs.« Ihre Stimme
nahm einen wehmütigen Ton an. »Zumindest war es mal prächtig.«
Raymond Blythe. Schloss
Milderhurst. Mein Herz klopfte inzwischen ziemlich heftig. »Hatte er vielleicht
eine Tochter?« »Er hatte sogar drei.« »Hieß eine davon Juniper?« »Genau. Das
ist die jüngste.«
Ich dachte
an meine Mutter, ihre Erinnerung an die Siebzehnjährige, die die Luft
elektrisch aufgeladen hatte, als sie den Gemeindesaal betrat, um »ihre
Evakuierte« abzuholen; die 1941 einen
Brief geschrieben hatte, der meine Mutter hatte in Tränen ausbrechen lassen,
als er fünfzig Jahre später eintraf. Plötzlich hatte ich das dringende
Bedürfnis, mich irgendwo zu stützen.
»Die
wohnen alle drei noch da oben«, fuhr die Verkäuferin fort. »Es muss was mit dem
Wasser im Schloss zu tun haben, sagt meine Mutter immer; sie sind jedenfalls
noch sehr rüstig. Außer der Jüngsten natürlich.«
»Was ist
denn mit der Jüngsten?«
»Demenz.
Ich glaube, das liegt in der Familie. Eine traurige Geschichte - sie muss mal eine
ausnehmende Schönheit gewesen sein und klug dazu, als Schriftstellerin ein
vielversprechendes Talent. Aber dann hat ihr Verlobter sie verlassen, damals
im Krieg, und davon hat sie sich nie wieder erholt. Ist verrückt geworden. Sie
hat immer darauf gewartet, dass er zu ihr zurückkommt,
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