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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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aber er ist nicht
gekommen.«
    Ich öffnete den Mund, um zu
fragen, was aus dem Verlobten geworden sei, aber sie war in ihrem Element und
offenbar nicht bereit, Fragen aus dem Publikum zu beantworten.
    »Zum Glück
hatte sie ihre beiden Schwestern, die sich um sie kümmern konnten - die zwei
gehören einer aussterbenden Rasse an; haben sich früher für alle möglichen
wohltätigen Zwecke engagiert —, sonst wäre sie in einer Irrenanstalt gelandet.«
Sie warf einen kurzen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, dass wir
allein waren, dann beugte sie sich vor. »Als ich klein war, ist Juniper immer
durch das Dorf und die Felder gestreift, das weiß ich noch. Sie hat niemanden
belästigt, das nicht, ist einfach nur ziellos umhergewandert. Uns Kindern hat
sie eine Heidenangst eingejagt. Aber Kinder gruseln sich ja gern, nicht wahr?«
    Ich nickte
eifrig, und sie fuhr fort: »Sie war wirklich harmlos. Sie hat sich nie in
Schwierigkeiten gebracht, aus denen sie nicht wieder allein herauskam. Außerdem
braucht jedes ordentliche Dorf seinen Sonderling.« Ein Lächeln umspielte ihre
Lippen. »Jemanden, der den Geistern Gesellschaft leistet. Hier drin können Sie
mehr über sie lesen, wenn Sie möchten.« Sie zeigte mir ein Buch mit dem Titel Raymond Blythe in Milderhurst.
    »Ich nehme
es«, sagte ich und gab ihr zehn Pfund. »Und den Modermann.«
    Ich war
mit meiner braunen Papiertüte schon fast aus der Tür, als sie mir nachrief:
»Wenn Sie das so sehr interessiert, sollten Sie vielleicht eine Besichtigung
machen.«
    »Im
Schloss?« Ich schaute zurück in den schummrigen Laden.
    »Am
besten, Sie wenden sich an Mrs. Bird. In der >Home Farm<, der Pension in der
Tenterden Road.«
     
    Ich musste
ein paar Kilometer in die Richtung fahren, aus der ich gekommen war, um zu der
Pension zu gelangen, einem schindelverkleideten Bauernhaus mit einem großen,
üppig blühenden Garten, in dessen hinterem Teil sich weitere Gebäude erahnen
ließen. Zwei kleine Gauben ragten aus dem Dach, und um den hohen Backsteinkamin
flatterten ein paar weiße Tauben. Die bleiverglasten Fenster standen offen, um
die warme Luft hereinzulassen, und die rautenförmigen Scheiben blinzelten in
der Nachmittagssonne.
    Ich parkte
unter einer gewaltigen Esche, deren ausladende Äste einer Seite des Hauses
Schatten spendeten, dann stapfte ich durch ein sonnenverwöhntes Blumengewirr:
duftender Jasmin, Rittersporn und Glockenblumen, die sich über den Rand des mit
Backsteinen gepflasterten Wegs ergossen. Zwei fette weiße Gänse watschelten
vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, als ich aus dem
gleißenden Licht in einen schummrigen Raum trat. An den Wänden hingen
Schwarz-Weiß-Fotografien vom Schloss und den dazugehörenden Ländereien, alle,
laut Bildunterschrift, aufgenommen für die Zeitschrift Country Life im Jahr 1910. An der
hinteren Wand erwarteten mich ein Tresen mit einem goldglänzenden Schild, das
»Rezeption« verkündete, und eine kleine, füllige Frau in einem königsblauen
Leinenkostüm.
    »Ah, Sie
müssen die junge Frau aus London sein.« Sie blinzelte hinter einer Hornbrille
und lächelte, als sie meine Verwirrung bemerkte. »Alice aus dem Buchladen hat
angerufen und mir Bescheid gesagt, dass Sie kommen würden. Sie haben sich ja
richtig beeilt. Bird meinte, Sie würden mindestens eine Stunde brauchen.«
    Ich warf
einen Blick auf den gelben Kanarienvogel in dem prunkvollen Käfig, der hinter
ihr von der Decke hing.
    »Er wollte
schon zu Mittag essen, aber ich habe zu ihm gesagt, Sie würden wahrscheinlich
genau in dem Moment hier ankommen, wenn ich die Tür zumache und das Schild raushänge.«
Sie lachte ein heiseres Raucherlachen, das tief aus ihrer Kehle kam. Ich hatte
sie auf Ende fünfzig geschätzt, aber dieses Lachen gehörte einer viel jüngeren,
viel durchtriebeneren Frau, als der erste Eindruck vermittelte. »Alice sagt,
Sie interessieren sich für das Schloss.«
    »Richtig.
Ich habe erwähnt, dass ich das Schloss gern besichtigen würde, und da hat sie
mich hierhergeschickt. Muss ich mich irgendwo anmelden?«
    »Meine
Güte, nein. So offiziell ist das alles nicht, ich mache die Führungen selbst.«
Ihr stolzgeschwellter Busen bebte im Leinenjackett. »Das heißt, früher.«
    »Früher?«
    »Aber ja,
und zwar mit Begeisterung. Anfangs haben die Damen Blythe das natürlich selbst
gemacht. In den Fünfzigerjahren haben sie damit angefangen, um die
Instandhaltungskosten aufzubringen und sich vor der Übernahme durch

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