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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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den
National Trust zu schützen - mit denen will Miss Percy nichts zu tun haben,
das kann ich Ihnen versichern —, aber vor ein paar Jahren wurde es dann alles
ein bisschen zu viel. Jeder hat seine Grenzen, und als Miss Percy nicht mehr
konnte, war es mir eine große Freude, für sie einzuspringen. Eine Zeit lang
habe ich pro Woche fünf Führungen gemacht, aber heutzutage gibt es kaum noch
Besucher. Anscheinend ist der alte Kasten in Vergessenheit geraten.« Sie sah
mich fragend an, als könnte ich ihr die Launen des Menschengeschlechts
erklären.
    »Also, ich
würde mir das Schloss sehr gern von innen ansehen«, sagte ich freudig,
hoffnungsvoll, vielleicht sogar ein bisschen ungeduldig.
    Mrs. Bird
blinzelte hinter ihrer runden Brille. »Selbstverständlich, meine Liebe, und
ich würde es Ihnen auch gern zeigen, aber ich fürchte, es gibt keine
Besichtigungen mehr.«
    Ich war so
enttäuscht, dass es mir einen Moment lang die Sprache verschlug. »Oh«, brachte
ich mit Mühe heraus. »Ach so.«
    »Es ist
wirklich eine Schande, aber Miss Percys Entschluss steht fest. Sie sagt, sie
ist es leid, ihr Haus zu öffnen, nur damit rücksichtslose Touristen überall
ihren Abfall verteilen. Tut mir leid, dass Alice Ihnen eine falsche Information
gegeben hat.« Sie hob ratlos die Schultern. Es entstand ein verlegenes
Schweigen.
    Ich wollte
mich schon höflich in mein Schicksal fügen, aber jetzt, wo ich die Aussicht
dahinschwinden sah, Schloss Milderhurst von innen zu sehen, gab es plötzlich
nichts mehr, was ich mir dringender wünschte. »Es ist nur ... ich bin eine so
große Bewunderin von Raymond Blythe«, hörte ich mich sagen. »Ich glaube, wenn
ich nicht als Kind den Modermann gelesen
hätte, wäre ich nie in einem Verlag gelandet. Wäre es nicht möglich ... ich
meine, könnten Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen und den Besitzerinnen
versichern, dass ich nicht zu den Leuten gehöre, die Abfall in ihrem Haus
verteilen?«
    »Na ja
...« Sie runzelte die Stirn und überlegte. »Das Schloss ist eine Augenweide,
und Miss Percy ist äußerst stolz auf ihren Familiensitz ... Sie arbeiten in
einem Verlag, sagten Sie?«
    Unbeabsichtigt
hatte ich das Zauberwort ausgesprochen. Mrs. Bird gehörte zu einer Generation,
für die das Wort »Verlag« eine Ehrfurcht gebietende Aura besaß. Mein winziger,
mit Papier übersäter Arbeitsplatz und mein bescheidenes Gehalt taten nichts
zur Sache. Ich klammerte mich an diese Gelegenheit wie eine Ertrinkende an ein
Floß: »Billing & Brown, Verlag und Druckerei, Notting Hill.« Plötzlich
fielen mir die Visitenkarten ein, die Herbert mir anlässlich der kleinen
Beförderungsparty überreicht hatte. Ich hatte nie welche bei mir, jedenfalls
nicht aus beruflichen Gründen, aber sie waren praktisch als Lesezeichen, und
so konnte ich schnell eine aus Jane Eyre herauszupfen,
dem Buch, das ich immer in der Tasche habe für den Fall, dass ich mal irgendwo
Schlange stehen muss. Ich überreichte die Karte wie einen Hauptgewinn.
    »Stellvertretende
Verlagsleiterin«, las Mrs. Bird und musterte mich über ihre Brille hinweg. »Na
so was.« Ich glaube nicht, dass ich mir den ehrfürchtigen Ton eingebildet habe,
der jetzt in ihrer Stimme mitschwang. Sie spielte mit dem Daumen an einer Ecke
der Karte, presste die Lippen zusammen und nickte schließlich entschlossen.
»Also gut. Geben Sie mir ein paar Minuten, dann rufe ich bei den alten Damen
an. Vielleicht kann ich sie ja dazu überreden, mich heute Nachmittag für Sie
eine kleine Führung machen zu lassen.«
     
    Während
Mrs. Bird leise in einen altmodischen Telefonhörer sprach, setzte ich mich in
einen Sessel mit tiefer Knopfpolsterung und öffnete das braune Päckchen mit
meinen neuen Büchern. Ich zog den Modermann hervor und
strich mit den Händen über den glänzenden Umschlag. Es stimmte, was ich gesagt
hatte - auf die eine oder andere Weise hatte die Begegnung mit Raymond Blythes
Geschichte mein ganzes Leben bestimmt. Als ich das Buch in den Händen hielt,
lief mir ein Schauer über den Rücken, und ich wusste ganz genau, wer ich war.
    Das Bild
auf dem Deckel war dasselbe wie bei der Ausgabe der West-Barnes-Bücherei, die
meine Mutter vor fast zwanzig Jahren mitgebracht hatte. Ich lächelte und nahm
mir fest vor, es ihr zu schicken, sobald ich nach Hause kam. Endlich würde eine
zwanzig Jahre alte Schuld beglichen.
    Denn als
ich wieder gesund war und den Modermann in die
Bücherei hätte zurückbringen müssen, war das Buch nicht mehr da.

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