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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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ihm, sich zu beherrschen. »Das
Wissen, dass ich ihn im Stich gelassen habe. Dass etwas Schreckliches geschehen
ist und niemand davon weiß. Vor der Welt, vor der Geschichte steht er als
Verräter da, weil ich nicht das Gegenteil beweisen konnte.«
    In diesem
Moment hätte ich alles darum gegeben, ihm die Last, die ihn bedrückte,
abzunehmen. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine Neuigkeiten über Tom bringen
konnte.«
    Er
schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Ist schon in Ordnung. Hoffnung ist
eine Sache, Erwartungen sind etwas anderes. Ich bin kein Narr. Tief in meinem
Herzen weiß ich, dass ich sterben werde, ohne meinen Frieden mit Tom gefunden
zu haben.«
    »Ich
wünschte, ich könnte etwas für Sie tun.«
    »Kommen
Sie mich irgendwann noch einmal besuchen«, sagte er. »Das wäre großartig. Dann
erzähle ich Ihnen noch ein bisschen über Tom. Aus glücklicheren Zeiten. Das
verspreche ich Ihnen.«
     
    1
     
    Milderhurst, Schlossgarten, 14. September 1939
     
    Es war
Krieg, und die Pflicht rief, aber die Sonne stand hoch und heiß am Himmel, das
Wasser glitzerte silbern, und die Bäume reckten ihre Zweige in die Höhe. Tja,
dachte Tom, es konnte wirklich nichts schaden, eine kleine Pause einzulegen
und kurz ins Wasser zu springen. Der Teich war kreisrund und hübsch angelegt,
von großen Steinen eingefasst, an einem gewaltigen Ast hing eine hölzerne
Schaukel, und er musste unwillkürlich lachen, als er seine Tasche fallen ließ.
Was für eine Entdeckung! Er löste seine Armbanduhr und legte sie sorgfältig auf
die lederne Tasche, die er sich vor einem Jahr gekauft hatte, sein ganzer
Stolz. Dann zog er sich die Schuhe aus und knöpfte sich das Hemd auf.
    Wann war
er das letzte Mal geschwommen? In diesem Sommer noch nicht, das stand fest.
Ein paar Freunde hatten sich im heißesten August, den sie je erlebt hatten, ein
Auto geliehen und waren nach Devon gefahren, um eine Woche am Meer zu
verbringen, und er hätte mit von der Partie sein sollen. Doch dann war Joey
gestürzt und hatte unter Albträumen gelitten, und der arme Kerl konnte nur
einschlafen, wenn Tom an seinem Bett saß und ihm Geschichten erzählte,
Geschichten über die Londoner U-Bahn, die er sich selbst ausdachte. Hinterher hatte
er in seinem schmalen Bett gelegen und in der stickigen Hitze vom Meer
geträumt, aber es hatte ihm nichts ausgemacht, oder fast nichts. Er hätte wohl
alles getan für den armen Jungen, der gefangen war in einem Männerkörper, der
immer unförmiger wurde - Joey mit seinem Kinderlachen. Bei dem grausamen
Klang dieses Lachens wurde Tom ganz flau im Magen, und er musste an das Kind
denken, das Joey einmal gewesen war, und an den Mann, der er einst hätte werden
sollen.
    Er zog
sich das Hemd aus, öffnete seine Gürtelschnalle und stieg aus seiner Hose. Er
musste die traurigen Gedanken verscheuchen. Ein großer, schwarzer Vogel
krächzte über ihm, und Tom schaute in den klaren, blauen Himmel. Er blinzelte gegen
das grelle Sonnenlicht, während er dem Vogel, der in eleganten Schwüngen
Richtung Wald flog, mit dem Blick folgte. Die Luft duftete herrlich, ein Duft,
der ihm vollkommen unbekannt war. Blumen, Vögel, das Plätschern eines Bachs
etwas weiter entfernt, Landluft wie aus den Geschichten von Thomas Hardy, und
er genoss es, dass das alles echt war und er mittendrin. Es war das wirkliche
Leben, und Tom war Teil davon. Er legte sich eine Hand auf die Brust, die
Finger gespreizt; die Sonne wärmte seine nackte Haut, alles lag vor ihm, es
fühlte sich gut an, jung und kräftig zu sein. Er war nicht religiös, aber
dieser Augenblick hatte etwas Übersinnnliches.
    Tom warf
einen Blick über die Schulter, träge, ohne Erwartung. Es lag nicht in seiner
Natur, Regeln zu brechen, er war Lehrer, er musste seinen Schülern ein Vorbild
sein, und diese Aufgabe nahm er ernst. Aber der Tag, das Wetter, der gerade
ausgebrochene Krieg, der exotische Duft, der in der Luft lag, all das machte
ihn verwegen. Schließlich war er jung, und es brauchte nicht viel, um einem
jungen Mann das herrliche Gefühl zu geben, dass die ganze Welt ihm gehörte und
er sie genießen konnte, wo immer sich die Gelegenheit bot. Gesetze zum Schutz
des Privateigentums waren gut und schön, aber doch eher theoretischer Natur,
etwas für Bücher und Akten und tattrige, weißbärtige Anwälte in Londoner
Kanzleien.
    Die
Lichtung war von Bäumen umstanden, in der Nähe befand sich ein
Umkleidehäuschen, und dahinter war eine steinerne Treppe zu sehen, die

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