Morton, Kate
auf den
Hügel zu führen schien. Über allem Sonne und Vogelgezwitscher. Tom stieß einen
tiefen, zufriedenen Seufzer aus. Es gab ein hölzernes Sprungbrett, das von der
Sonne so aufgeheizt war, dass er sich fast die Füße verbrannte, als er
darauftrat. Er blieb einen Moment stehen, genoss den Schmerz an den Füßen, das
Brennen der Sonne auf seinen Schultern, das Spannen der Haut, bis er es nicht
mehr aushalten konnte, dann machte er lächelnd zwei Schritte, federte am Ende
des Bretts, ließ die Arme schwingen, sprang ab und stieß wie ein Pfeil ins
Wasser. Die Kälte umklammerte seine Brust wie ein Schraubstock, und er tauchte
japsend wieder auf, so gierig nach Luft schnappend wie ein Neugeborenes beim
ersten Atemzug.
Er schwamm
ein paar Minuten lang, tauchte tief, immer und immer wieder, dann ließ er sich
auf dem Rücken treiben, die Arme und Beine von sich gestreckt. Das, dachte er,
ist der vollkommene Augenblick. Das, was Wordsworth und Coleridge und Blake
beschrieben hatten: das Erhabene. Wenn er jetzt sterben würde, dachte Tom, würde
er zufrieden aus dem Leben scheiden. Nicht dass er sterben wollte, nein, er
wollte noch mindestens siebzig Jahre leben. Er rechnete im Kopf: bis zum Jahr 2009, das würde ihm gefallen. Dann wäre er ein alter Mann, der
auf dem Mond wohnte. Er lachte, schwamm ein paar Züge auf dem Rücken, ließ sich
dann wieder bewegungslos treiben, schloss die Augen, um die Sonne auf den
Lidern zu spüren. Die Welt war orangefarben und von Sternen durchsetzt, und
darin sah er seine Zukunft leuchten.
Schon bald
würde er Uniform tragen, der Krieg wartete auf ihn, und Tom Cavill brannte
darauf, sich ihm zu stellen. Er war nicht blauäugig, sein Vater hatte auf den
französischen Schlachtfeldern ein Bein und einen Teil seines Verstandes verloren,
und er machte sich keine Illusionen über Heldentum und Ruhm, er wusste, dass
der Krieg eine ernste Angelegenheit war, und gefährlich. Und er gehörte auch
nicht zu den jungen Männern, die es nicht erwarten konnten, ihrer derzeitigen
Situation zu entkommen, im Gegenteil: So wie Tom das sah, bot der Krieg ihm die
perfekte Gelegenheit, sich zu verbessern und vorwärtszukommen, als Mann und
auch als Lehrer.
Seit er
begriffen hatte, dass auch er einmal ein Erwachsener sein würde, hatte er
Lehrer werden wollen und davon geträumt, in seinem alten Londoner Viertel zu
arbeiten. Tom war davon überzeugt, dass er solchen Kindern, wie er eins gewesen
war, die Augen öffnen konnte, ihr Interesse wecken für eine Welt jenseits der
rußigen Backsteine und vollen Wäscheleinen, die ihren Alltag ausmachten. Dieser
Gedanke hatte ihn stets beflügelt, im Studium ebenso wie in seiner Zeit als
Referendar, bis er schließlich, mithilfe von viel gutem Zureden und ein
bisschen Glück, genau da gelandet war, wo er sein wollte.
Doch
sobald klar war, dass es Krieg geben würde, hatte für ihn festgestanden, dass
er sich zum Kriegsdienst melden würde. Lehrer wurden zu Hause gebraucht, er
hätte sich vom Dienst befreien lassen können, aber was für ein Beispiel hätte
er damit abgegeben? Er hatte allerdings auch eigennützige Gründe. John Keats
hatte einmal gesagt, nichts sei real, bis man es selbst erlebt habe, und Tom
wusste, dass das der Wahrheit entsprach. Mehr noch, er wusste genau, woran es
ihm mangelte. Mitgefühl war gut und schön, aber wenn Tom von Geschichte
redete, von Opferbereitschaft und Nationalität, wenn er seinen Schülern den
Schlachtruf Heinrichs V. vorlas, führte er Worte im Mund, die er im Grunde
nicht verstand. Der Krieg, davon war er überzeugt, würde ihm dieses Verständnis
vermitteln, nach dem er sich sehnte, und deswegen würde er, wenn er sich vergewissert
hatte, dass die evakuierten Kinder, für die er verantwortlich war, gut
untergebracht waren, auf direktem Weg nach London zurückfahren. Er hatte sich
beim Ersten Bataillon des East-Surrey-Regiments gemeldet, und mit ein bisschen
Glück würde er schon im November in Frankreich sein.
Gedankenverloren
bewegte er die Finger im Wasser und seufzte so tief, dass er ein bisschen
tiefer sank. Vielleicht war es das Bewusstsein, dass er schon in einer Woche
eine Uniform tragen würde, was diesen Tag so besonders machte, ihn realer
erscheinen ließ als die Tage in der Vergangenheit. Zweifellos war da eine
übersinnliche Macht am Werk, denn es lag nicht nur an der Sommerhitze oder der
warmen Brise oder an dem Duft, den er nicht einordnen konnte; und obwohl er
darauf brannte, in den Krieg zu
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