Morton, Kate
mir ins Schloss gefallen, als in seinem Zimmer
das Glöckchen bimmelte. Ich ging auf direktem Weg nach oben. Er saß in seinem
Bett, die Teetasse in der Hand, die meine Mutter ihm nach dem Abendessen
gebracht hatte, und gab sich überrascht. »Ah, Edie«, sagte er mit einem Blick
auf die Wanduhr. »Ich hatte noch gar nicht mit dir gerechnet. Irgendwie habe
ich die Zeit ganz vergessen.«
Eine
ziemlich unwahrscheinliche Behauptung. Der aufgeschlagene Modermann lag mit
dem Gesicht nach unten auf der Decke neben ihm und das Spiralheft, das er
inzwischen seine »Fallsammlung« nannte, auf den Knien. Die Szene machte den
Eindruck, als hätte er den ganzen Nachmittag über den Geheimnissen des Modermann gebrütet,
und die Neugier, mit der er nach den Ausdrucken schielte, die aus meiner Tasche
hervorlugten, sprach für sich. Ich weiß nicht, warum, aber in dem Moment ritt
mich der Teufel. Ich gähnte ausgiebig, hielt mir eine Hand vor den Mund, ging
langsam zu dem Sessel auf der anderen Seite seines Betts, machte es mir bequem
und lächelte ihn an. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. »Du hast nicht zufällig
in der Bibliothek was gefunden? Über alte Entführungsfälle in Schloss
Milderhurst?«
»Ach ja«,
sagte ich. »Natürlich. Das hätte ich beinahe vergessen.« Ich nahm die Mappe
aus meiner Tasche, blätterte die Seiten durch und gab ihm die Artikel über die
Entführungen.
Er
überflog sie nacheinander mit solchem Feuereifer, dass es mir grausam vorkam,
dass ich ihn hatte zappeln lassen. Die Arzte hatten uns gesagt, dass
Herzpatienten häufig an Depressionen litten, vor allem Männer wie mein Vater,
der es gewohnt war, einen wichtigen Posten auszufüllen, und sich schwertat,
sich mit seinem Rentnerdasein abzufinden. Wenn mein Vater also eine Zukunft als
literarischer Detektiv vor sich sah, würde ich ihn nicht aufhalten — auch wenn
der Modermann das erste Buch war, das er in
vierzig Jahren gelesen hatte. Außerdem schien mir das eine wesentlich bessere
Lebensaufgabe zu sein als das ewige Reparieren von Sachen im Haushalt, die
nicht einmal kaputt waren. Ich beschloss, mich kooperativer zu verhalten.
»Irgendetwas Interessantes, Dad?«
Seine
freudige Erregung hatte nachgelassen. »Keiner davon hat was mit Milderhurst zu tun.«
»Ja,
leider. Jedenfalls nicht direkt.«
»Aber ich
war mir ganz sicher, dass es etwas geben musste.«
»Tut mir
leid, Dad, mehr konnte ich nicht finden.«
Er
lächelte tapfer. »Macht nichts, ist ja nicht deine Schuld, Edie. Wir dürfen uns
nur nicht entmutigen lassen. Wir müssen einfach ein bisschen um die Ecke
denken.« Er klopfte sich mit seinem Stift ans Kinn und zeigte dann damit auf
mich. »Ich habe den ganzen Nachmittag in dem Buch gelesen und bin zu dem
Schluss gekommen, dass es etwas mit dem Schlossgraben zu tun haben muss. Es
kann nicht anders sein. In deinem Buch über Milderhurst steht, dass Raymond
Blythe den Graben hat zuschütten lassen, kurz bevor er den Modermann geschrieben
hat.«
Ich nickte
so überzeugt, wie ich konnte, und verkniff es mir, ihn an Muriel Blythes Tod zu
erinnern und daran, dass Raymond Blythe danach in tiefe Trauer versunken war.
»Ich
meine, das kann doch kein Zufall sein«, sagte er eifrig. »Es muss etwas zu
bedeuten haben. Und das Mädchen am Fenster, das entführt wird, während die
Eltern schlafen. Es steht alles hier drin, jetzt muss ich nur noch die
richtigen Schlussfolgerungen ziehen.«
Er wandte
sich wieder den Artikeln zu, las sie langsam und sorgfältig und machte sich
Notizen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber es fiel mir schwer, nicht
die ganze Zeit an das wirkliche Rätsel zu denken, das mich beschäftigte. Ich
schaute aus dem Fenster in die Abenddämmerung. Der Halbmond stand hoch am
violetten Himmel, und dünne Wolkenstreifen trieben an seinem Gesicht vorbei.
Ich war in Gedanken bei Theo und seinem Bruder, der sich vor fünfzig Jahren in
Luft aufgelöst hatte, nachdem er nicht zu dem Abendessen auf dem Schloss
erschienen war. Ich hatte mich auf die Suche nach Thomas Cavill gemacht in der
Hoffnung, etwas zu finden, das mir helfen würde, Junipers geistige Umnachtung
besser zu verstehen. Meine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt, aber mein Gespräch
mit Theo hatte meine Meinung über Tom grundlegend geändert. Wenn Theo recht
hatte, war Thomas alles andere als ein Betrüger, sondern ein Mann, dem viel
Unrecht getan worden war. Nicht zuletzt von mir.
»Du hörst
ja gar nicht zu.«
Ich wandte
mich vom Fenster ab und
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