Morton, Kate
erleichtert auf. Ich legte die Unterlagen weg.
»Weißt du,
Dad«, sagte ich mit belegter Stimme, »ich glaube, dass du da eine ganz
brauchbare Spur entdeckt hast. Ich meine diese Sache mit dem See und dem
kleinen Jungen.«
»Davon
rede ich doch die ganze Zeit.«
»Ich weiß.
Und ich halte es durchaus für möglich, dass dieses Ereignis Raymond Blythe zu
der Geschichte inspiriert hat.«
Er
verdrehte die Augen. »Ja, aber jetzt vergiss mal für einen Augenblick das
Buch, Edie. Wir müssen über deine Mutter reden.«
Ȇber
Mum?«
Er zeigte
auf die geschlossene Tür. »Sie ist unglücklich, und das bedrückt mich.«
»Das
bildest du dir ein.«
»Ich bin
kein Idiot. Sie lässt seit Wochen den Kopf hängen. Heute hat sie mir erzählt,
dass sie die Seiten mit den Wohnungsanzeigen in deinem Zimmer gefunden hat,
und dann hat sie angefangen zu weinen.«
Meine
Mutter war in meinem Zimmer gewesen? »Mum hat geweint?«
»Sie ist
sehr sensibel, das war sie schon immer. Sie trägt das Herz auf der Zunge. Da
seid ihr beide euch sehr ähnlich.«
Ich weiß
nicht, ob er das gesagt hat, um mich aus der Reserve zu locken, aber über die
Bemerkung, meine Mutter würde das Herz auf der Zunge tragen, war ich dermaßen
verblüfft, dass mir die Worte fehlten. Und wie kam er zu der Behauptung, wir
wären uns ähnlich? »Wie ... wie meinst du das?«, stammelte ich.
»Das hat
sie mir von Anfang an sympathisch gemacht. Sie war so anders als all die
blasierten Typen, die ich kannte. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war
sie in Tränen aufgelöst.«
»Wirklich?«
»Wir waren
im Kino. Zufällig waren wir die einzigen Zuschauer. Der Film war nicht mal
besonders traurig, für meinen Geschmack jedenfalls nicht, aber deine Mutter hat
die ganze Zeit im Dunkeln geweint. Sie hat versucht, es zu verbergen, aber als
wir aus dem Kino kamen, waren ihre Augen so rot wie dein T-Shirt. Sie hat mir
so leidgetan, dass ich sie auf ein Stück Kuchen eingeladen habe.«
»Und
weswegen hat sie so geweint?«
»Das weiß
ich eigentlich nicht so genau. Damals hatte sie ganz offensichtlich nah am
Wasser gebaut.« »Nein ... wirklich?«
»O doch.
Sie war sehr sensibel - und lustig. Pfiffig und unberechenbar. Sie hatte eine
Art, die Dinge zu beschreiben, dass es einem vorkam, als würde man sie zum
ersten Mal sehen.«
Am
liebsten hätte ich gefragt: »Und was ist dann passiert?«, aber was die Frage
implizierte, nämlich dass sie sich total verändert hatte, erschien mir
grausam. Ich war froh, als mein Vater fortfuhr.
»Das ist
alles anders geworden«, sagte er, »nachdem das mit deinem Bruder passiert ist.
Mit Daniel. Seitdem ist nichts mehr wie früher.«
Ich konnte
mich nicht erinnern, Daniels Namen jemals aus dem Mund meines Vaters gehört zu
haben, und ich war so verdattert, dass ich mich wie gelähmt fühlte. Es gab so
vieles, was ich gern gesagt oder gefragt hätte, dass ich gar nicht gewusst
hätte, wo ich anfangen sollte, und ich brachte nur ein »Oh« heraus.
»Es war
schrecklich.« Seine Stimme klang fest, aber seine Unterlippe verriet ihn. Ein
seltsames, unwillkürliches Zucken, das mir fast das Herz brach. »Es war
schrecklich.«
Ich berührte
leicht seinen Arm, aber er schien es nicht zu bemerken. Er hielt den Blick auf
den Teppich vor der Tür geheftet und lächelte schwach über etwas, das nur er
sah. Schließlich sagte er: »Er ist immer gehüpft. Das hat ihm einen Riesenspaß
gemacht. >Ich hüpfe<, sagte er dann. >Kuck mal, Daddy, wie ich hüpfe!<«
Ich sah
ihn vor mir, meinen kleinen großen Bruder, wie er vor Stolz strahlend durch das
Haus hüpfte. »Ich hätte ihn so gern kennengelernt.«
Mein Vater
legte seine Hand auf meine. »Das hätte ich auch gern erlebt.«
Die kühle
Nachtluft wehte den Vorhang gegen meine Schulter, und ich fröstelte. »Ich
dachte immer, wir hätten ein Gespenst im Haus. Als ich klein war. Manchmal
habe ich euch beide über ihn reden hören, ihr habt seinen Namen gesagt, aber
wenn ich ins Zimmer gekommen bin, habt ihr sofort das Thema gewechselt. Ich
habe Mum einmal nach ihm gefragt.«
Er schaute
mich an. »Und was hat sie gesagt?«
»Sie hat
gesagt, ich hätte eine blühende Fantasie.«
Dad hob
eine Hand und betrachtete sie stirnrunzelnd, ballte sie zur Faust, als würde er
ein imaginäres Blatt Papier zerknüllen. Dann seufzte er. »Wir glaubten, das
Richtige zu tun. Wir wussten es nicht besser.«
»Ja, das
weiß ich.«
»Deine
Mutter ...« Er presste die Lippen zusammen, um gegen seine
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