Morton, Kate
Tautropfen erwacht und als wäre
die Wirklichkeit eine ziemlich verstaubte Überraschung.
Ob es nun
die Sonne war, der Teich, der Mann, der klare, blaue Himmel, Juniper konnte
nicht widerstehen, ihrer Schwester im Vorbeieilen einen Kuss auf die Stirn zu
drücken.
Saffy
strahlte. »Hat Meredith ... ja, ich sehe schon. Gut. Ach, ihr wart schwimmen.
Passt auf, dass Daddy ...«
Aber wie
auch immer die Ermahnung lautete, Juniper war schon verschwunden, ehe sie
ausgesprochen war.
Sie
rannten durch hohe Korridore, enge Treppenhäuser, immer höher, Stockwerk um
Stockwerk, bis sie das Dachzimmer ganz oben im Schloss erreichten. Juniper riss
das Fenster auf, kletterte auf das halbhohe Bücherregal und setzte sich auf die
Fensterbank und ließ die Beine draußen baumeln. »Komm«, sagte sie zu Meredith,
die in der Tür stehen geblieben war und sie merkwürdig ansah. »Komm schnell.«
Meredith
seufzte unsicher, rückte ihre Brille zurecht. Dann ging sie zum Fenster und tat
es Juniper nach. Vorsichtig schoben sie sich über das steile Dach, bis sie den
First erreichten, der nach Süden ragte wie der Bug eines Schiffs.
»Da,
siehst du?«, sagte Juniper, als sie nebeneinander auf dem Dachvorsprung saßen.
Sie zeigte nach Süden, auf eine krakelige Linie am fernen Horizont. »Ich hab's
dir ja gesagt. Man kann bis nach Frankreich sehen.«
»Wirklich?
Das ist Frankreich?«
Juniper
nickte, sie hatte bereits das Interesse an der Küstenlinie verloren. Mit
zusammengekniffenen Augen ließ sie den Blick über die gelben Wiesen wandern,
über den Cardarker-Wald, suchte, suchte, hoffte, ihn noch einmal zu sehen ...
Sie zuckte
zusammen. Da war er, eine winzige Gestalt, die die Wiese bei der ersten Brücke
überquerte. Er hatte die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und
seine schlenkernden Arme streiften das hohe Gras. Plötzlich blieb er stehen,
legte die Hände in den Nacken, schien den Himmel zu umarmen. Dann begriff sie,
dass er sich umdrehte. Er schaute zum Schloss zurück. Sie hielt den Atem an,
fragte sich, wie es möglich war, dass das Leben sich innerhalb einer halben
Stunde so sehr verändern konnte, wo sich doch eigentlich überhaupt nichts geändert
hatte.
»Das
Schloss trägt einen Rock.« Meredith zeigte auf die Erde unter ihnen.
Jetzt ging
er weiter und schließlich verschwand er in einer Senke, und alles war still.
Tom Cavill war durch den Riss in die Außenwelt geschlüpft. Die Luft um das
Schloss herum schien das zu wissen.
»Kuck
mal«, sagte Meredith. »Da unten.«
Juniper
nahm ihre Zigaretten aus der Tasche. »Da war mal ein Graben. Daddy hat ihn
zuschütten lassen, nachdem seine erste Frau gestorben ist. Eigentlich sollen
wir auch nicht im Teich schwimmen.« Sie lächelte, als Meredith sie ängstlich anschaute.
»Mach nicht so ein Gesicht, kleine Merry. Niemand wird sich aufregen, wenn ich
dir das Schwimmen beibringe.
Daddy verlässt seinen Turm
überhaupt nicht mehr, er wird gar nicht erfahren, ob wir im Teich schwimmen
oder nicht. Außerdem wäre es eine Schande, an so einem heißen Tag nicht
schwimmen zu gehen.« Warm, perfekt, blau.
Juniper
riss ein Streichholz an. Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, stützte
sich mit der Hand am steilen Dach ab und blinzelte in den klaren, blauen
Himmel, die Kuppel ihrer Welt. Worte kamen ihr in den Sinn, die nicht ihre
eigenen waren.
Ich, die alte Turteltaube,
Schwinge mich auf einen dürren Ast
und weine
Um meinen Geliebten, der nicht
wiederkommt,
Bis an mein Ende!
Das war
natürlich lächerlich. Vollkommen lächerlich. Der Mann war nicht ihr Geliebter,
er war niemand, um den sie weinen musste, bis an ihr Ende. Und doch waren ihr
die Worte in den Sinn gekommen.
»Magst du
Mr. Cavill?«
Junipers
Herz machte einen Satz, ihr brach der Schweiß aus. Sie war durchschaut!
Meredith hatte ihre geheimsten Gedanken erfasst. Sie schob sich den Träger
ihres feuchten Kleids zurück auf die Schulter, versuchte, Zeit zu gewinnen,
steckte die Streichhölzer in ihre Tasche.
Meredith
sagte: »Ich mag ihn.«
Und an der
Röte ihrer Wangen erkannte Juniper, dass Meredith ihren Lehrer sehr mochte.
Sie war hin- und hergerissen zwischen der Erleichterung darüber, dass Meredith
ihre Gedanken doch nicht erraten hatte, und rasender Eifersucht, weil Meredith
ihre Gefühle teilte. Aber als sie ihre kleine Freundin anschaute, verflog ihre
Eifersucht so schnell, wie sie gekommen war. »Warum?«, fragte sie. »Was gefallt
dir an ihm?«
Meredith
antwortete nicht
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