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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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blinzelte. Mein Vater sah mich über seine Lesebrille
hinweg vorwurfsvoll an. »Ich habe dir gerade eine sehr vernünftige Theorie
unterbreitet, Edie, und du hast kein Wort davon mitbekommen.«
    »Doch,
habe ich. Gräben, kleine Kinder ...« Ich wand mich innerlich, versuchte es mit:
»Boote?«
    Er
schnaubte verächtlich. »Du bist genauso schlimm wie deine Mutter. Ihr beide
seid neuerdings oft so abwesend.«
    »Ich weiß
gar nicht, wovon du redest, Dad.« Ich stützte mich mit einem Ellbogen auf die
Bettkante. »So, ich bin ganz Ohr. Lass mich deine Theorie hören.«
    Seine
Begeisterung überwog seine Kränkung, und so ließ er sich nicht zweimal bitten.
»Dieser Bericht hier hat mich nachdenklich gemacht. Ein Junge wird aus seinem
Zimmer in einem Herrenhaus in der Nähe von Milderhurst entführt, ein Fall, der
nie aufgeklärt wurde. Das Fenster stand weit offen, obwohl das Kindermädchen
behauptet, es sei geschlossen gewesen, als sie nachgesehen hat, ob die Kinder
schliefen, und auf dem Boden waren Spuren, die darauf hindeuteten, dass eine
Leiter benutzt wurde. Das war 1872, da war
Raymond sechs Jahre alt. Alt genug, um von der Geschichte gehört zu haben und
von ihr beeindruckt zu sein, meinst du nicht?«
    Durchaus
möglich, dachte ich. Jedenfalls nicht unmöglich. »Absolut, Dad. Klingt sehr
wahrscheinlich.«
    »Der
springende Punkt ist, dass die Leiche des Jungen nach intensiver Suche ...«, er
grinste triumphierend und genoss es, mich noch ein bisschen auf die Folter zu
spannen, «... nach intensiver Suche am Grund eines schlammigen Teichs gefunden
wurde.« Unsere Blicke begegneten sich, und sein Lächeln verschwand. »Was ist?
Warum siehst du mich so an?«
    »Ich ...
weil es so eine schreckliche Geschichte ist. Der arme kleine Junge. Die armen
Eltern.«
    »Ja,
natürlich, aber das ist hundert Jahre her, und alle sind längst tot. Außerdem
ist es genau das, was ich meine. Für einen kleinen Jungen, der in der Nähe in
einem Schloss wohnte, muss es schrecklich gewesen sein, seine Eltern darüber
reden zu hören.«
    Ich musste
an die Riegel am Kinderzimmerfenster denken, daran, wie Percy Blythe mir
erklärt hatte, ihr Vater hätte wegen eines traumatischen Erlebnisses in seiner
Kindheit einen Sicherheitsfimmel gehabt. Ich musste meinem Vater recht geben.
»Stimmt.«
    Er
runzelte die Stirn. »Aber ich weiß immer noch nicht genau, was das mit dem
Schlossgraben zu tun hat. Oder wie der kleine Junge sich in einen Mann
verwandelt hat, der am Grund eines schlammigen Schlossgrabens lebt. Oder warum
die Beschreibung von dem Mann, wie er aus dem Graben steigt, so realistisch
sein kann ...«
    Es klopfte
leise an der Tür, und meine Mutter kam ins Zimmer. »Ich will euch ja nicht
stören. Ich wollte nur sehen, ob du deinen Tee schon getrunken hast.«
    »Danke,
meine Liebe.« Er hielt die Tasse hoch, und nach kurzem Zögern trat sie näher,
um sie ihm abzunehmen.
    »Ihr seid
anscheinend schwer beschäftigt«, bemerkte sie, während sie so tat, als
interessierte sie sich brennend für einen Teetropfen am Tassenrand. Sie rieb
ihn mit einem Finger ab und gab sich alle Mühe, nicht in meine Richtung zu
sehen.
    »Wir
arbeiten an einer Theorie.« Mein Vater zwinkerte mir zu, ohne zu bemerken, dass
eine Kältefront das Zimmer in zwei Hälften geteilt hatte.
    »Dann
werdet ihr ja noch eine Weile zu tun haben. Ich sage schon mal Gute Nacht und
lege mich ins Bett. Es war ein anstrengender Tag.« Sie küsste meinen Vater auf
die Wange und nickte in meine Richtung, ohne mich anzusehen. »Gute Nacht,
Edie.«
    »Gute
Nacht, Mum.«
    Gott, wie
steif wir miteinander umgingen! Ich schaute ihr nicht nach, sondern tat so, als
wäre ich in den Ausdruck auf meinem Schoß vertieft. Es handelte sich um die
zusammengetackerten Seiten mit den Informationen, die Miss Yeats über das
Pembroke-Farm-Institut ausgegraben hatte. Ich überflog die erste Seite, auf der
es um die Geschichte des Instituts ging: Gegründet 1907 von einem gewissen Oliver Sykes — der Name kam mir
irgendwie bekannt vor. Nach einigem Kopfzerbrechen fiel mir wieder ein, dass es
sich um den Architekten handelte, der den runden Badeteich auf Schloss
Milderhurst entworfen hatte. Das passte. Wenn Raymond Blythe einem Umweltschutzverein
Geld hinterließ, dann musste jemand hinter dem Verein stehen, den er
bewunderte. Dasselbe galt für jemanden, den er damit beauftragte, sein
geliebtes Anwesen zu gestalten ... Ich hörte, wie meine Mutter ihre Zimmertür
schloss, und atmete

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