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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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hätte es diesmal
anders sein sollen?
    Aber
diesmal war es anders gewesen. Juniper hatte herausgefunden, was sie vor ihr
verbargen. Sie wussten immer noch nicht, dass sie es erfahren hatte. Es war
purer Zufall gewesen. Mrs. Simpson war gekommen, um mit Daddy zu sprechen,
während Juniper in der Nähe der Brücke am Bach gespielt hatte. Mrs. Simpson
hatte sich über das Brückengeländer gelehnt, mit dem Zeigefinger gewedelt und
geschrien: »Du!« Juniper hatte verwundert aufgeblickt. »Du bist ein Ungeheuer.
Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Man sollte dich einsperren für das, was du
getan hast!«
    Juniper
hatte nicht verstanden, hatte nicht gewusst, wovon die Frau redete.
    »Sie haben
meinen Jungen mit dreißig Stichen zusammengenäht. Dreißig! Du bist ein Tier!«
    Ein Tier.
    Das war
der Auslöser gewesen. Juniper war zusammengezuckt, als sie es gehört hatte,
und da war die Erinnerung zurückgekommen. Bruchstückhaft, unscharf. Ein Tier -
Emerson — Schmerzensschreie.
    Obwohl sie
alles versucht hatte, obwohl sie sich extrem konzentriert hatte, war der Rest
verschwommen geblieben. Hatte sich im Dunkel des Vergessens verborgen. Wie
erbärmlich mangelhaft ihr Gehirn doch war! Wie sie es verachtete. Alles andere
würde sie sofort hergeben — das Schreiben, den schwindelerregenden Rausch der
Inspiration, die Freude, einen Gedanken auf Papier festzuhalten, sogar ihre
Besucher würde sie aufgeben, wenn sie dafür nur all ihre Erinnerungen behalten
könnte. Sie hatte ihre Schwestern bearbeitet, sie angefleht, aber ohne Erfolg,
und so hatte sie sich schließlich an ihren Vater gewandt. Oben in seinem Turm
hatte er ihr alles erzählt - was Billy Simpson dem armen, kranken Emerson
angetan hatte, dem lieben alten Hund, der nichts anderes gewollt hatte, als
seine letzten Tage neben dem sonnenbeschienenen Rhododendronstrauch zu
verdösen - und was Juniper Billy Simpson angetan hatte. Er hatte ihr gesagt,
sie solle sich keine Sorgen machen. Es sei nicht ihre Schuld. »Dieser Junge
ist ein Rüpel der übelsten Sorte. Er hat nur bekommen, was er verdient hat.«
Und dann hatte er gelächelt, aber in seinen Augen hatte die Angst gelauert.
»Für Menschen wie dich«, hatte er gesagt, »gelten andere Regeln. Für Menschen
wie dich und mich.«
    »Und?«,
fragte Meredith. »Was ist es? Wovor fürchtest du dich?«
    »Ich
glaube, ich habe Angst«, sagte Juniper, den Blick auf den Cardarker-Wald
gerichtet, »dass ich so werden könnte wie mein Vater.«
    »Wie
meinst du das?«
    Es war
unmöglich, es zu erklären, ohne Merry mit Dingen zu belasten, die sie nicht zu
wissen brauchte. Die Angst, die Junipers Herz wie ein Gummiband einschnürte,
die grauenhafte Vorstellung, sie könnte irgendwann als verrückte Alte in den
Korridoren des Schlosses herumgeistern und in einem Meer aus Papier ertrinken,
stets ängstlich auf der Hut vor den Geschöpfen, die aus ihrer eigenen Feder
stammten. Sie zuckte die Schultern und sagte beiläufig: »Na ja, dass ich mein
Leben lang in diesem Kasten hier festsitzen könnte.«
    »Aber
warum solltest du denn weggehen wollen?«
    »Meine
Schwestern erdrücken mich.«
    »Meine würde mich gern
erdrücken.«
    Juniper
lächelte und schnippte Asche in die Regenrinne.
    »Ich meine
es ernst, sie hasst mich.«
    »Warum?«
    »Weil ich
anders bin. Weil ich nicht sein will wie sie, obwohl alle das von mir
erwarten.«
    Juniper
zog an ihrer Zigarette, legte den Kopf schief und betrachtete die Welt um sie
herum. »Wie kann ein Mensch glauben, er könnte seinem Schicksal entkommen,
Merry? Das ist doch die Frage.«
    Schweigen.
Dann sagte Meredith leise: »Es gibt immer noch Züge.«
    Zuerst
dachte Juniper, sie hätte sich verhört, aber als sie Meredith anschaute, sah
sie, dass das Mädchen es völlig ernst gemeint hatte.
    »Ich
meine, es gibt auch Omnibusse, aber ich glaube, der Zug ist schneller. Und
bequemer.«
    Juniper
konnte nicht anders. Sie brach in schallendes Gelächter aus, das aus ihrem
tiefsten Innern kam.
    Meredith
lächelte verunsichert, aber Juniper umarmte sie überschwänglich. »Ach, Merry«,
sagte sie. »Weißt du, dass du einfach unübertrefflich bist?«
    Meredith
strahlte, und die beiden lehnten sich gegen die Dachschindeln und schauten in
den Nachmittagshimmel.
    »Erzähl
mir eine Geschichte, Merry.«
    »Was denn
für eine?«
    »Erzähl
mir von London.«
     
    Die Kleinanzeigen 1992
     
    Mein Vater
wartete schon, als ich von meinem Besuch bei Theo Cavill zurückkehrte. Die
Haustür war noch nicht hinter

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