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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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Gefühle
anzukämpfen, und beinahe hätte ich ihm gesagt, er solle nicht weitersprechen.
Aber ich konnte es nicht. Ich wartete schon zu lange auf diese Geschichte -
schließlich ging es um etwas, was mir mein Leben lang gefehlt hatte - und ich
war begierig, jedes noch so kleine Detail zu erfahren. Er wählte seine nächsten
Worte offensichtlich mit großem Bedacht. »Deine Mutter hat es furchtbar schwer
genommen. Sie hat sich selbst die Schuld gegeben. Sie konnte nicht akzeptieren,
dass das, was passiert ist ...«, er schluckte, »... das, was mit Daniel
passiert ist... ein Unfall war. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie
daran schuld war, dass sie es verdient hatte, ein Kind zu verlieren.«
    Ich war
wie benommen, nicht nur, weil das, was er mir erzählte, so schrecklich war, so
traurig, sondern weil er es überhaupt aussprach. »Aber wie kommt sie denn auf
so etwas?«
    »Das weiß
ich nicht.«
    »Daniels
Krankheit war doch nicht erblich bedingt.« »Nein.«
    »Es war
einfach ...« Ich suchte vergeblich nach den richtigen Worten.
    Er klappte
sein Spiralheft zu und legte es zusammen mit dem Modermann auf seinen
Nachttisch. Offenbar würden wir heute Abend nicht daraus lesen. »Manchmal sind
die Gefühle eines Menschen nun einmal nicht rational, Edie. Zumindest oberflächlich
betrachtet wirken sie nicht so. Man muss ein bisschen tiefer graben, wenn man
verstehen will, was dem zugrunde liegt.«
    Ich konnte
nur nicken. Der ganze Tag war so verrückt gewesen, und jetzt erklärte mir mein
Vater auch noch die Abgründe der menschlichen Psyche. Das war zu viel, um es an
einem Tag zu verarbeiten.
    »Ich hatte
immer den Eindruck, dass es etwas mit ihrer Mutter zu tun hatte, mit einem
Streit zwischen den beiden, als deine Mutter noch ein junges Mädchen war.
Seitdem war ihr Verhältnis zerrüttet. Ich habe nie erfahren, worum es bei dem
Streit ging, aber was auch immer deine Großmutter gesagt hat, Meredith hat sich
daran erinnert, als wir Daniel verloren haben.«
    »Aber
Großmutter hätte Mum doch nie wehgetan. Jedenfalls nicht absichtlich.«
    Er
schüttelte den Kopf. »Man kann nie wissen, Edie. Nicht, wenn es um Menschen
geht. Ich konnte es überhaupt nicht leiden, wie deine Großmutter und Rita sich
ständig gegen deine Mutter verbündet haben. Es hat bei mir immer einen bitteren
Nachgeschmack hinterlassen. Wie die beiden sich gegen sie verschworen haben und
wie sie dich für ihre Zwecke benutzt haben.«
    Seine
Sichtweise überraschte mich, und es rührte mich, wie liebevoll er das alles
schilderte. Rita hatte angedeutet, dass sie meine Eltern für Snobs hielt, dass
sie fand, sie würden auf den Rest der Familie herabblicken, aber so, wie mein
Vater es darstellte ... Allmählich fing ich an mich zu fragen, ob die Dinge
vielleicht nicht so einfach lagen, wie ich angenommen hatte.
    »Das Leben
ist zu kurz für Zerwürfnisse, Edie. Jeden Tag kann es plötzlich vorbei sein.
Ich weiß nicht, was zwischen dir und deiner Mutter vorgefallen ist, aber sie
ist unglücklich, und das macht mich auch unglücklich, und ihr habt hier einen
nicht mehr ganz jugendlichen Patienten, der sich gerade von einem Herzinfarkt
erholt und dessen Gefühle auch berücksichtigt werden müssen.«
    Ich
lächelte, und er lächelte auch.
    »Vertrag
dich mit ihr, Liebes.«
    Ich
nickte.
    »Ich
brauche einen klaren Kopf, wenn ich dieses Modermann-Rätsel lösen soll.«
     
    Später an
jenem Abend saß ich auf meinem Bett, die Seiten mit den Vermietungsanzeigen vor
mir ausgebreitet, kringelte Angebote für Wohnungen ein, die ich mir sowieso
nicht leisten konnte, und dachte über die sensible, lustige, weinende junge
Frau nach, die ich nie kennengelernt hatte. Diese Unbekannte auf einem der
alten Fotos - diesen quadratischen mit den abgerundeten Ecken und den weichen,
abgeschatteten Farben -, die eine Schlaghose und eine geblümte Bluse trug und
einen kleinen Jungen mit Pilzfrisur und Ledersandalen an der Hand hielt. Einen
kleinen Jungen, der gern hüpfte und dessen Tod sie ihrer Lebensfreude berauben
würde.
    Und ich
dachte daran, dass mein Vater gesagt hatte, meine Mutter gäbe sich die Schuld
an Daniels Tod. Dass sie überzeugt sei, sie hätte es verdient, ein Kind zu
verlieren. Etwas an der Art, wie er das gesagt hatte, vielleicht, dass er das
Wort »verloren« benutzt hatte, sein Verdacht, dass es etwas mit einem Streit
zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter zu tun hatte, erinnerte mich an
den letzten Brief, den meine Mutter ihren Eltern aus

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