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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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sie zögerte und strich sich eine Strähne
aus den Augen. Sie überlegte. Die Neuigkeit wurde größer und größer in ihrem
Innern, wollte freigelassen werden, aber eine kleine Stimme drängte sie zur
Zurückhaltung.
    Die Pfeife
des Schaffners übertönte ihre innere Stimme, und Juniper traf ihre
Entscheidung. Meredith war ihre beste Freundin, ihr konnte sie vertrauen. »Ich
habe ein Geheimnis, Merry«, sagte sie. »Ich habe es noch niemandem erzählt, wir
wollen lieber noch warten, aber du bist nicht irgendjemand.«
    Meredith
nickte eifrig, und Juniper beugte sich zum Ohr ihrer kleinen Freundin vor. Sie
fragte sich, ob die Worte wohl auch jetzt genauso fremd und wundervoll klingen
würden wie beim ersten Mal: »Thomas Cavill und ich werden heiraten.«
     
    Mrs. Birds Verdacht 1992
     
    Es war
dunkel, als ich das Bauernhaus erreichte, und ein feiner Nieselregen hatte
eingesetzt, der sich wie ein Netz über die Landschaft legte. Das Abendessen
würde erst in ein paar Stunden serviert werden, und darüber war ich froh. Nach
meinem außerplanmäßigen Nachmittag in Gesellschaft der Schwestern brauchte ich
ein heißes Bad und Zeit für mich, um die erdrückende Atmosphäre abzuschütteln,
die mich auf dem Weg zurück begleitet hatte. Ich hätte nicht einmal genau sagen
können, was es war, aber die Schlossmauern hatten so viel unerfüllte
Sehnsucht, so viel enttäuschte Hoffnung erlebt, dass sie die bedrückende
Atmosphäre geradezu auszudünsten schienen.
    Und doch
übten das Schloss und seine weltentrückten Bewohnerinnen eine unerklärliche
Faszination auf mich aus. Ungeachtet des Unbehagens, das ich dort gespürt
hatte, empfand ich, kaum dass ich das Schloss verlassen hatte, einen Zwang zurückzukehren,
und zählte die Stunden bis zu meinem nächsten Besuch. Vernünftig klingt das
nicht, aber welche Obsession ist schon vernünftig? Und dass es sich um eine
Obsession handelte, sehe ich inzwischen ein.
    Ein
sanfter Regen fiel auf das Dach des Bauernhauses, während ich auf dem Bett
lag, die Decke um die Füße gewickelt, las und döste und nachdachte, und zum
Abendessen war ich wieder erholt. Es war verständlich, dass Percy Juniper
schonen wollte, dass sie mir vehement Einhalt geboten hatte, als ich mich anschickte,
alte Wunden aufzureißen. Es war taktlos von mir gewesen, Thomas Cavill zu
erwähnen, vor allem, da Juniper in der Nähe war. Aber Percys heftige Reaktion
hatte meine Neugier geweckt ... Vielleicht hatte ich ja Glück und konnte Saffy
irgendwann unter vier Augen sprechen; dann würde ich noch ein bisschen
weiterbohren können. Sie schien geneigt, ja begierig zu sein, mich bei meinen
Nachforschungen zu unterstützen.
    Nachforschungen,
die jetzt sogar das Privileg einschlossen, in Raymond Blythes Notizbüchern
stöbern zu dürfen. Allein der Gedanke ließ mich wohlig erschaudern. Freudig
erregt rollte ich mich auf den Rücken, starrte an die Balkendecke und malte mir
aus, wie es sein würde, in die Gedankenwelt des Schriftstellers einzutauchen.
    Im
gemütlichen Esszimmer von Mrs. Birds Bauernhaus setzte ich mich zum Abendessen
allein an einen Tisch. Es duftete angenehm nach dem Gemüseeintopf, den sie mir
servierte, und im offenen Kamin prasselte ein Feuer. Draußen wurde der Wind
heftiger, rüttelte an den Fensterscheiben, ließ die Läden hin und wieder laut
klappern. Nicht zum ersten Mal dachte ich, was für eine simple Wohltat es doch
ist, im Warmen zu sitzen, wenn sich draußen die kalte, sternlose Nacht über
das Land legt.
    Ich hatte
meine Notizen mitgenommen, um mit der Arbeit an meinem Essay über Raymond
Blythe zu beginnen, aber meine Gedanken wanderten immer wieder zu seinen
Töchtern. Wahrscheinlich war es das Geschwisterthema. Ich war völlig fasziniert
von dem Netz aus Liebe, Pflichtgefühl und Groll, in dem sie gefangen waren. Die
Blicke, die sie austauschten, das über Jahrzehnte entstandene komplizierte
Kräftegleichgewicht, ihre wortlose Verständigung, die ich nie würde ergründen
können. Und vielleicht war das der Schlüssel: Sie bildeten eine verschworene
Gemeinschaft, und ich war allein. Sie gemeinsam zu erleben ließ mich deutlich
und schmerzhaft erkennen, was mir fehlte.
    »War wohl
ein großer Tag heute?« Als ich aufsah, stand Mrs. Bird vor mir. »Und morgen
steht Ihnen wieder einer bevor, wie ich das sehe?«
    »Morgen
früh darf ich mir Raymond Blythes Kladden ansehen.« Ich konnte nicht anders,
die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus.
    Mrs. Bird
war fassungslos, schien

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