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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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zwei Kristallgläsern zurück. Es passte so
perfekt zu dem rauen, launischen Wetter, dass ich erfreut lächelnd das Angebot
annahm.
    Über den
Tisch hinweg stießen wir an.
    »Meine
Mutter wäre beinahe unverheiratet geblieben«, sagte Mrs. Bird und kostete mit
zusammengepressten Lippen die Wärme des Whiskys. »Was sagen Sie dazu? Um ein
Haar hätte es mich nie gegeben.« Sie fasste sich theatralisch an die Stirn.
    Ich
lächelte.
    »Sie hatte
einen Bruder, wissen Sie, einen älteren Bruder, den sie angebetet hat. So wie
sie von ihm erzählte, hätte man meinen können, er hätte persönlich dafür
gesorgt, dass jeden Morgen die Sonne aufging. Ihr Vater war jung gestorben, da
hat Michael, der Bruder, die Rolle übernommen. Er war der Mann im Haus. Schon
als Junge hat er nach der Schule und am Wochenende gearbeitet. Hat für zwei
Pence Fenster geputzt. Und das Geld hat er seiner Mutter gegeben, damit sie das
Haus in Ordnung halten konnte. Und dazu sah er auch noch gut aus ... Warten
Sie, ich habe ein Foto.« Sie eilte zum Kamin, ließ die Finger über eine Reihe
Bilderrahmen flattern, die auf dem Sims standen, und nahm schließlich einen
kleinen Messingrahmen herunter. Mit der ausgebeulten Vorderseite ihres
Tweedrocks wischte sie den Staub vom Glas und reichte mir das Foto. Drei
Personen, festgehalten in einem Moment aus längst vergangenen Zeiten: Ein
junger Mann, der vom Schicksal mit einem guten Aussehen gesegnet war, zwischen
einer älteren Frau und einem hübschen Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren.
    »Michael
ist wie alle anderen in den Ersten Weltkrieg gezogen.« Mrs. Bird stand hinter
mir und sah mir über die Schulter. »Meine Mutter hat ihn zum Zug begleitet, und
beim Abschied hat er sie gebeten, bei der Mutter zu bleiben, falls ihm etwas zustoßen
sollte.« Mrs. Bird nahm das Foto an sich und setzte sich wieder hin. Sie rückte
ihre Brille zurecht und betrachtete das Bild, während sie weitersprach. »Was
hätte sie sagen sollen? Sie hat es ihm versprochen. Sie war noch so jung -
bestimmt hat sie nicht damit gerechnet, dass irgendetwas Schlimmes passieren
könnte. Das hat eigentlich niemand. Zumindest nicht zu Kriegsbeginn. Da wussten
sie es noch nicht.« Sie klappte den Pappständer an der Rückwand des Rahmens
heraus und stellte ihn auf den Tisch neben ihr Glas.
    Ich nippte
an meinem Whisky und wartete; schließlich seufzte sie. Sie sah mich an, und
dann machte sie eine Handbewegung, als wollte sie Konfetti streuen.
»Jedenfalls«, fuhr sie fort, »kam es, wie es kommen musste. Er ist gefallen,
und meine arme Mutter hielt sich an das Versprechen, das sie gegeben hatte.
Ich weiß nicht, ob ich es getan hätte, aber damals waren die Menschen noch
anders. Sie hielten ihr Wort. Meine Großmutter war ein richtiger Drachen,
ehrlich gesagt, aber meine Mutter hat sie beide ernährt, alle Hoffnungen auf
Ehe und Kinder aufgegeben und sich in ihr Schicksal gefügt.«
    Schwere
Regentropfen prasselten gegen das Fenster, und ich fröstelte in meiner
Strickjacke. »Und doch sitzen Sie jetzt hier.«
    »Ja,
richtig.«
    »Was ist
dann geschehen?«
    »Meine
Großmutter ist gestorben«, sagte Mrs. Bird mit einem sachlichen Nicken, »es
ging sehr schnell, im Juni 1939. Sie war
schon eine Zeit lang krank gewesen, irgendwas mit der Leber, es war also nicht
so überraschend. Nach allem, was ich weiß, muss es eine ziemliche Erleichterung
gewesen sein, aber meine Mutter war viel zu gutmütig, um so etwas zuzugeben. Im
neunten Kriegsmonat hat meine Mutter geheiratet, da war sie mit mir schwanger.«
    »Eine
stürmische Liebesgeschichte.«
    »Stürmisch?«
Mrs. Bird schürzte nachdenklich die Lippen. »Wahrscheinlich ja, gemessen an den
heutigen Maßstäben. Aber nicht damals, im Krieg. Und ehrlich gesagt bin ich mir
nicht einmal so sicher, ob es wirklich eine Liebesgeschichte war. Ich hatte
immer den Eindruck, dass meine Mutter aus rein praktischen Gründen geheiratet
hat. Das hat sie zwar nie gesagt, nicht einmal angedeutet, aber ein Kind spürt
so etwas, nicht wahr? Auch wenn wir alle am liebsten das Produkt einer großen
Leidenschaft wären.« Sie lächelte mich an, zögerlich, als versuchte sie
einzuschätzen, ob sie mir noch mehr anvertrauen konnte.
    »Ist denn
irgendetwas vorgefallen?«, fragte ich und beugte mich vor. »Etwas, das Sie auf
diese Idee gebracht hat?«
    Mrs. Bird
trank ihren Whisky aus und drehte das Glas hin und her, sodass feuchte Ringe
auf dem Tisch entstanden. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Flasche,

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